Die Ungeheuerlichkeit eines autonomen Lebens

Das Ludwig zeigt eine große Retrospektive der amerikanischen Malerin Joan Mitchell

Man muss sich Joan Mitchell als einen selbstironischen Menschen vorstellen. Angesichts einer zunehmend pluralistischen Kunstwelt bemerkte sie Mitte der 70er Jahre lakonisch: »Pop Art, Op Art, Flop Art und Slop Art. Ich falle unter die beiden letzten Kategorien.« Diese Einordnung war allerdings ziemlich übertrieben. Tatsächlich wurde Mitchells ungegenständliche, gestische Malerei schon früh an höchster Stelle der Kunstwelt geschätzt. So nahm sie 1959 mit Mitte zwanzig an der legendären documenta II in Kassel teil — die Großausstellung, die die internationale Vormachtstellung des amerikanischen Abstrakten Expressionismus besiegelte. New York hatte, wie es der Kunsthistoriker Serge Guilbaut formulierte, »die Idee der modernen Kunst gestohlen«.

 

Mitchell selbst hat immer zu verstehen gegeben, dass sie sich der Malerei des alten Europa verbunden fühlte; Ende der 50er Jahre verlegte sie sogar ihren Wohnsitz von New York nach Paris. Zehn Jahre später verließ sie die französische Hauptstadt und arbeitete nur noch in Vétheuil, einer Ortschaft an der Seine — ein Terrain, das der Impressionist Claude Monet durch zahlreiche Gemälde berühmt gemacht hatte.

 

Mitchells malerische Verweise auf Natureindrücke und Landschaften durchziehen ihr Werk, seit sie als Schülerin erste Aquarelle anfertigte. In ihren großformatigen, manchmal mehrteiligen Leinwänden lassen sich Anklänge an Monets späte, fast abstrakte Seerosen-Bilder erkennen. Gleichzeitig registriert ihre Malerei immer auch ihre körperliche Präsenz und den Malakt als solchen. Im amerikanischen Action Painting galt die Leinwand als Arena, in der der Maler agierte. Betrachtet man die zentrifugalen Bewegungen, mit denen Mitchell manche ihrer weißgrundigen Kompositionen aus einer senkrechten Achse zu den Bildrändern hin ausdünnte, denkt man an die Pirouetten, die sie in ihrer Jugend als preisgekrönte Eiskunstläuferin drehte. Eine andere Quelle, aus der sie Anregungen bezog, waren Gedichte, sei es von befreundeten Zeitgenossen wie Frank O’Hara oder von Rilke.

 

Aus kunsthistorischer Sicht ist Mitchells Werk ein klarer Fall: Die 1925 in Chicago geborene Künstlerin wird der Zweiten Generation des Abstrakten Expressionismus zugerechnet. Diese Zugehörigkeit war streckenweise ein Karrierehindernis, als Mitchell an die Öffentlichkeit trat, war ihr malerisches Vokabular schon museal abgesegnet und stand im Verdacht, zur neuen Akademie zu werden. Einer ihrer Galeristen setzte sie Anfang der 60er Jahre vor die Tür, um den »gestischen Horror« loszuwerden. Allerdings hatte sie das Privileg, über solche Konjunkturschwankungen hinwegsehen zu können. Ihr Elternhaus war begütert und hatte ihre künstlerischen Interessen früh gefördert. Während sich später namhafte Kolleginnen und Kollegen wie Willem und Elaine de Kooning oder Andy Warhol ihren Lebensunterhalt anfangs als Anstreicher, Modezeichner oder Schaufensterdekorateur verdienen mussten, konnte Mitchell sich ganz auf ihr Studium der Kunst und Kunstgeschichte konzentrieren. In ihrem exzessiven Lebensstil stand Mitchell der ersten Generation allerdings in nichts nach und schaffte es, als eine der wenigen Frauen, sich in der männlich dominierten Szene New Yorks zu etablieren.

 

Bleibt die Frage, warum Mitchell gerade jetzt »wiederentdeckt« und mit einer Ausstellung im Museum Ludwig geehrt wird. Das können durchaus die Gesetze des Kunstmarkts sein, der stets nach attraktivem und bedeutendem Material sucht. Warum es interessant ist, sich wieder intensiver mit Mitchells Leben und Werk zu beschäftigten, steht aber noch auf einem anderen Blatt. Ihre Kollegin Jutta Koether bringt es auf die Formel: »Mitchell steht für etwas heute Ungeheuerliches: die Möglichkeit eines autonomen Lebens.« Dabei sind auch die Verstrickungen und Abhängigkeiten in Mitchells Leben unübersehbar: ihr unheilbarer Alkoholismus, ihr chaotisches Privatleben mit konfliktreichen Beziehungen, darunter die Ehe mit dem frankokanadischen Maler Jean-Paul Riopelle, für den sie aus Amerika wegging.

 

»Die Malerei macht es mir möglich, zu überleben«, kommentierte die 1992 in Paris gestorbene Künstlerin. Es gibt keinen Grund, an der Glaubwürdigkeit dieser Aussage zu zweifeln, wenn man ihren raumgreifenden Leinwänden und anderen Zeugnissen ihrer Biografie gegenübersteht. Vielleicht liegt darin Mitchells aktuelle Faszination: in ihrem Bewusstsein, dass ihr Leben zu kurz war für den »Luxus der Coolness und Distanziertheit«, wie ihre Biografin Patricia Albers schrieb.