»Tanz ist das, was du daraus machst«

Den in Köln vergebenen Deutschen Videotanzpreis 2004 erhält die isländische Choreografin Helena Jonsdottir. Gesa Pölert skizziert die Geschichte einer Kunstform und porträtiert deren aktuelle Protagonistin

Normalerweise stirbt an dieser Stelle ein Prinz. Wellen steigen höher und höher, parallel zu Tschaikowskys Musik. Und ein schöner Märchenheld versinkt im Schwanensee. Bei Helena Jonsdottir wellen statt der Ballettbühnen-üblichen Plastikplanen Fettwülste. Tschaikowskys Musik kommt aus dem Fernseher. Und ihr »Schwanensee«-Protagonist ist das absolute Gegenteil eines Märchenprinzen. Ein träges Stück Fleisch im Fernsehsessel. Dass es in dem ganzen Elend trotzdem einen Schwanensee gibt, verdanken wir Jonsdottirs Kameraauge. Es zoomt, bis nur noch das weiße Unterhemd im Visier ist. Das Wogen der Fettringe. Ein Atmen, als würde der Bauchbesitzer gleich ertrinken.

Idee höchster körperlicher Euphorie

Die isländische Choreografin und Filmemacherin Helena Jonsdottir montiert die Idee höchster körperlicher Euphorie und Schönheit gegen die Idee des fetten Couch-Potatoes. Sie zeigt den Körper, dessen Lust mit Essen ruhiggestellt wird, und die Sehnsucht, die sich in Kino und Märchen flüchtet. Wer das sehen will, muss aber trotzdem selbst vor den Fernseher. Jonsdottirs Couch- und Märchentanz ist nicht Bühnen- sondern Videokunst.
»Zimmer« heißt der nur wenige Minuten lange Film, für den sie mit dem diesjährigen Deutschen Videotanzpreis (40.000 Euro Produktionsmittel für Nachwuchsprojekte) ausgezeichnet wurde. Sie gehörte zu den sechs Vorrundengewinnern, die sich mit einem Pilotfilm bewerben durften. »Zimmer« hat die sechsköpfige Fachjury überzeugt. Die 40.000 Euro sind in die Weiterentwicklung der kurzen Couch-Sequenz gegangen. »Das Konzept von Helena Jonsdottir«, heißt es in der Begründungsschrift, »erscheint der Jury als vielversprechende Vision zwischen den Eckpunkten einer eigenen und originellen Konzeption von Körperausdruck, dem Zustand der Kultur im Medienzeitalter und dem Zustand des Bewusstseins in demselben.«

»Zimmer« packt den Zuschauer

So jurydeutsch sie formuliert wurde, die Entscheidung ist aus mehreren Gründen erfreulich. Einmal, weil »Zimmer« ein Film ist, der auf verschiedenen Ebenen packt – körperlich, emotional und gedanklich. So unverblümt in seinen Bildern, dass sie sofort ins Langzeitgedächtnis sortiert werden. Zum anderen ist es gut, dass die Jury zum ersten Mal wirklich über den Tellerrand geblickt hat. Der Deutsche Videotanzpreis legt Wert auf internationale Ausschreibung und Strahlkraft, doch von den sechs Gewinnerfilmen der Vorrunde müssen im Sinne einer verbindliche Quote mindestens zwei NRW-basiert sein. Alle bisherigen Preise gingen an Künstlerteams, die zumindest teilweise nach Köln gehörten. Mit derart regionalen Entscheidungen ist es schwierig, einen tatsächlich internationalen Preis zu etablieren.
Aber der von der Kölner SK Stiftung Kultur initiierte (und gemeinsam mit pact zollverein Essen, der Interartes GmbH und Tanzlandschaft Ruhr ausgelobte) Preis ist ein wichtiges Engagement. Bisher ist Videotanz eine Kunstform, die in Deutschland viel zu wenig stattfindet und gezeigt wird. Das war 1996 bei ersten Videotanzpreis-Ausschreibung so und ist bis heute nicht anders. Was im Genre alles möglich ist, haben in den letzten Jahrzehnten in Europa vor allem die französische und britische Szene demonstriert. Für das BBC-Format »Dance for the camera« beispielsweise entstand Tanz als Künstlerfilm speziell für die Kamera. Weltstar Sylvie Guillem wurde in hart geschnittenem Rhythmus und extremer Nahsicht dabei gefilmt, wie sie ihre Energie gegen Wände, Decke, Fußboden schießt (»Blue Yellow« von Adam Roberts). Oder die Kamera begleitete das DV 8 Physical Theatre in Kneipe und Hinterhof, ließ Tanz mit Fußball und Tresenrummel interagieren.

Das Vidéodanse-Festival

Die schönste Plattform für solche Produktionen und die gesamte Historie des Kamera-Tanzens ist nach wie vor das jährliche Vidéodanse-Festival im Pariser Centre Pompidou. Mehrere Wochen lang werden in kenntnisreicher, inspirierter Auswahl Tanzfilme gezeigt, die auch die lange Geschichte des Mediums beleuchten: Schon in den 1880er Jahren, in der Gründerzeit des Kinos, hat die Schleiertänzerin Loie Fuller aufwändige Tanzfilme drehen lassen.
In Deutschland haben solche Veranstaltungen Seltenheitswert. Köln immerhin profitiert vom Videotanz-Schwerpunkt der SK Stiftung, die mehrmals im Jahr Filmprogramme für Kinos oder open air organisiert. Der Gewinnerfilm des Videotanzpreises wird einmal jährlich in Köln uraufgeführt (diesmal am 28. November), bevor er in den Randprogrammen von ZDF und 3sat verschwindet.
Die Preisträgerin 2004 aus dem kleinen, aber auch im Tanz sehr einfallsreichen Island arbeitet als Tänzerin, Choreografin, Filmemacherin. Sie hat seit Anfang der 80er Jahre Modern Dance, Gymnastik, Jazz, Rock, Tap, Ballet und Argentinischen Tango trainiert und von 1990 bis 2002 Werbefilme und Musikvideos gedreht – parallel zu vielfältigen Engagements als Tänzerin und Choreografin, in Musical, Ballett und Zeitgenössischem Tanz. Inzwischen ist für sie die Kamera »der liebste Tanzpartner.« Es sind deren Möglichkeiten, mit den zeitgenössischen Medien Fernsehen, Film und Computer in Beziehung zu treten, die sie faszinieren.

Einfach, karg, vielsagend

Jonsdottir ist eine der wenigen Choreografinnen, die gleichzeitig auch Regie führen. An Tanzfilmen im engeren Sinne arbeitet sie erst seit fünf Jahren, aber immer eigensinnig: Ihre Clips sind einfach, betrachten Alltag mit kargem Humor und vielsagender Schnitttechnik. Sie »denken«, ohne das gleich zu demonstrieren, »tanzen«, ohne dass es unbedingt so aussieht. In »Red Buses« (2001) ist weit und breit ist kein Bus zu sehen. Dafür zwei Perfomerinnen in roten Strassenmänteln, die über Strassen hüpfen wie spielende Schulmädchen.
»Meine Arbeit geht auf das zurück, was wir überall sehen und auswendig kennen,« sagt sie. »Auch wenn es in einen neuen und aufregenden Kontext verwandelt wird – es bleibt absolut zugänglich für jede Art Publikum.« Jonsdottir filmt, schneidet und inszeniert unspektakulär. Doch gerade in der gekonnten Konzentration der Mittel scheint eine erfahrene Künstlerin durch. Ihre Filme zeigen, was Videotanz sein kann – viel mehr nämlich als aufgezeichnete Bühnenproduktionen oder Dokumentation. Ein Hybrid mit vielen Möglichkeiten, zwischen Film- und Tanzkunst, Medium und Körper.
Der Kurzfilm »Zimmer« kommt mit zwei Grundmotiven aus, Fernseher und Mann vorm Fernseher. Die TV-Bilder arrangiert Jonsdottir als glamouröses Puzzle aus Medienversatzstücken: romantisches Märchenballett, Hollywood-Liebe, Fitness-geformte Körper. Der Protagonist dagegen klebt dick im Sessel. Aber sein Körper ist ein Vulkan, in dem es rumort. Zuckende Füße und Arme rebellieren gegen die eigene Unbewegtheit. »Der Kameraraum«, sagt Jonsdottir, »gibt mir viel mehr Möglichkeiten, mit ganz kleinen Bewegungen und close ups zu arbeiten. Wiederholung und Manipulation von Zeit und Raum eröffnen mir eine völlig neue Wahrnehmung von Tanz und Choreografie.«
»Zimmer« erzählt von heutigen Medienwelten und vom Widerspruch zwischen den Bedürfnissen des Körpers und seinen Lebensbedingungen. Aber auch vom uralten Graben zwischen Wünschen und Realität, Manipulation und Selbstverantwortung. Helena Jonsdottir verwandelt aktuelle Fragen in Bilder und erzählt gleichzeitig spannend Geschichten. Ihr wichtigstes Ziel weiterhin: »Ich möchte einfache, aber herausfordernde Filme machen. Um zu zeigen, dass Tanz das ist, was du aus ihm machen willst.«

Die Premiere von »Zimmer« von Helena Jonsdottir findet statt am 28.11., 19 Uhr. Ab 20.30 Uhr spielt die isländische Band Ske live. SK Stiftung Kultur, Im Mediapark 7, Eintritt frei, www.sk-kultur.de