Jenseits der Spießerrealität

»Kunst in der DDR« ist mehr als DDR-Staatskunst: Die erste umfassende Retrospektive mit 270 Werken gastiert in Bonn. Felix Klopotek fand Helden, Proleten und viel Ambivalenz

 

Der Anfang ist das Stärkste. Wer die Ausstellung »Kunst in der DDR« besucht, muss zuerst an einer Skulptur Fritz Cremers vorbei: »Aufsteigender. Den um ihre Freiheit kämpfenden Völkern gewidmet«. Cremer schuf sie in den Jahren 1966/67. Es ist eine wuchtige Gestalt aus Bronze, ein Prolet, kein Zweifel, sich mit bloßem Oberkörper reckend, der rechte Arm ist schon oben, greift nach etwas, der linke bleibt noch angewinkelt. Die Skulptur ist, aus heutiger Sicht, kaum heroisch, man sieht dem Aufsteigenden die Mühen an, die Qual. Wenn das proletarischer Heroismus sein soll, dann war ihm, zumindest in dem Werk Cremers, etwas zutiefst Leidvolles eingeschrieben.
Danach muss der Besucher tatsächlich aufsteigen, eine Treppe. Ehe er den eigentlichen Eingang zur Ausstellung passiert, liest er ein Zitat des großen Dramatikers Heiner Müller: » ... die Zeit der Kunst ist eine andere Zeit als die der Politik, der Geschichte, des Lebens. Wenn man versucht, sie zusammenzuzwingen, zu vereinheitlichen, kommt es zur Katastrophe, beschädigt eins das andere ... « Rechts dahinter hängt Willi Sittes »Hommage à Lenin« (1969), eine Heldenverehrung. Lenin, würdevoll, Autorität gebietend, scheint aus dem Wirbel der Geschichte hervorzutreten, sich daraus zu lösen. Große Hände in dynamischer Bewegung, das Haupt leicht gehoben, die Volksmassen wohl ebenso im Blick wie die Zukunft.

Willi Sitte

Vielleicht wird man in fünfzig oder hundert Jahren Willi Sitte in seiner Zerissenheit zu dem deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts erklären. 1921 geboren, Ausbildung beim NS-Staatsmaler Werner Peiner, wegen Aufsässigkeit rausgeworfen, wenig später an die italienische Front geschickt, übergelaufen zu den Partisanen. In den 50er Jahren, mittlerweile in der DDR, wird der von Picasso und Léger beeinflusste Künstler von den Kulturapparatschicks angefeindet, 1961 ein Selbstmordversuch. Der Aufstieg kommt mit seinen Epochenbildern. Sitte wird 1974 Präsident des Künstlerverbandes – ein Apparatschik. Leitet aber in den 70er Jahren die Liberalisierung der Kunstszene ein, ist als Funktionär zur Stelle, wenn es darum geht, bedrängten Kollegen zu helfen; ist, so wird ihm vorgeworfen, aber auch zur Stelle, um Kollegen erst in Bedrängnis zu bringen. Sitte ist Kommunist geblieben, eine große Retrospektive 2001 in Nürnberg zu seinem 80. Geburtstag wurde von der dortigen Museumsleitung – man muss es so deutlich sagen – zensiert.
Neben Sittes Lenin hängt in Bonn Via Lewandowskys »Ikarus oder Übermut tut selten gut« (1988). Lewandowsky ist zu DDR-Zeiten ein Außenseiter, gehört zum Prenzlauer-Berg-Underground. Der Ikarus, mit grotesken Proportionen (riesige Arme, kleine Statur) und einer verkrüppelten Hand, kommuniziert untergründig mit Cremers Aufsteigendem. Gegenüber diesem Paar hängen zwei düstere Bilder von Michael Morgner, »A« und »Z« (beide von 1982/83). Morgners Buchstaben haben etwas brutales, wuchtiges, sie sind komplett frei von sozialistischer Metaphorik und offensichtlichen Anspielungen, entfernt erinnernd an die Zahlenbilder Jasper Johns’.

Der Welt abgewandt

Wir sind, alles noch auf kleinstem Raum, bereits bei der vierten Spiegelung von Kunst in der DDR: Cremers verzweifelter Geschichtsoptimismus, Sittes strahlende Affirmation, Lewandowskys Ironie und Morgners, nun ja, Weltabgewandtheit, in die die Realität allenfalls als Trauma eindringt. Und dann geht man auf die Mitte des Raumes zu, dort ist eine halbe Rotunde, man kann runterschauen in die erste Etage, wo die Thraker-Austellung läuft, man kann aber auch auf einen Ausschnitt aus Werner Tübkes Gemälde »Frühbürgerliche Revolutionen in Deutschland« schauen – real verewigt auf über 1.700 Quadratmetern in einem monumentalen Rundbau im thüringschen Frankenhausen, dem Ort der Niederlage des Bauernrevolutionärs Thomas Müntzer. Der Ausschnitt hat vielleicht zwei Quadratmeter. Ihn so zu präsentieren ist eine ironische Geste, denn der Ausschnitt steht im Kontrast zu dem größten Gemälde of all times, entworfen und realisiert von Tübke, dem einzigen realsozialistischen Malerfürsten.
»Kunst in der DDR«, 2003 vom Kunstkritikerverband zur »Ausstellung des Jahres« gewählt und ein Jahr nach ihrer Premiere in der Berliner Nationalgalerie nun (etwas verkleinert) in Bonn zu sehen, ist im Großen und Ganzen ein vorsichtiges und abwägendes politisches Statement. Ganz anders als die in der Tat unverschämte Weimarer Ausstellung »Aufstieg und Fall der Moderne« (1999), in der DDR-Kunst nicht nur betont lieblos präsentiert, sondern auch in einen ästhetischen Zusammenhang mit Nazi-Schund gestellt wurde.

Erfahrene Ausstellungsmacher

Abgesehen von dem grellen Tusch zu Beginn geht »Kunst in der DDR« in erster Linie chronologisch und dann thematisch klar gegliedert vor. Die kundigen Ausstellungsmacher Eugen Blume und Roland März (Berliner Nationalgalerie), schon zu Ost-Zeiten Kuratoren an der Alten Nationalgalerie, wollen konzentrieren, einen Überblick bereiten. Den früheren Außenseitern kommt das zugute: die sehr feingliedrige, auch vergrübelte und kryptische Kunst eines Carlfriedrich Claus oder eines Gerhard Altenbourg bekommt den gleichen Platz wie die legendäre Leipziger Viererbande um Bernhard Heisig, Bernd Mattheuer, Willi Sitte und Werner Tübke. Man kann die künstlerische Entwicklung von A.R. Penck zu seinen Proto-Graffiti nachvollziehen und wird sich darüber ärgern, wie borniert die Funktionäre waren, jemanden wie Penck aus der DDR wegzuekeln. Dem alten Hermann Glöckner, der in der DDR die Moderne der 20er und frühen 30er Jahre bewahrt hat, wird gehuldigt, und die Rocker vom Prenzlauer Berg werden behutsam eingemeindet. Die Fotografien von Jens Rötzsch, skurrile und doch aufrichtig ernste Farbaufnahmen von Massenaufmärschen, möchte man am liebsten neben Fotografien von Martin Parr sehen. »Kunst in der DDR« – der Stoff hätte für vier, fünf, sechs Ausstellungen gereicht, und wenn ein Besucher irgendwann überfordert abschaltet, soll es ihm keiner verübeln.

Klingt fast schon banal

Es gab Kunst in der DDR, die eigenständig oder besser: eigensinnig war – gegenüber dem Westen und gegenüber dem misstrauischen und bevormundenden Staat. Das ist die Essenz dieser Ausstellung. Klingt fast schon banal. Leider bringt es die Überfülle, also der unbedingte Wille, die Eigenständigkeit in jedem Genre zu demonstrieren, mit sich, dass man das Subtile, die feine Arbeit der Subversion, die in den meisten der Bilder, Skulpturen, Fotografien und Künstlerfilme steckt, kaum wahrnimmt. (Am besten zweimal in die Ausstellung gehen.) Nehmen wir ein offensichtlich besonders affirmatives Bild, Sittes Lenin. Es lässt sich
sehen als Revolutionsmalerei, prächtig, visionär, noch voller Hoffnung – und damit denkbar weit weg von der Spießerrealität der DDR-Politik. Wenn Lenin in die Zukunft blickt, blickt er dann nicht auch über die Köpfe der dummen Funktionäre hinweg? Man kann sagen: eine abwegige Interpretation. Aber der Punkt ist, dass Sittes Bild diese Lesweise zulässt. Das ist das Entscheidende bei den meisten der hier präsentierten Werke: Sie sind offen genug, in ihnen beispielsweise tiefe Verzweiflung und gleichzeitiges Bekenntnis zum Kollektivismus zu entdecken. »Kunst in der DDR« ist keine Erinnerung an ein »besseres Deutschland«. Aber doch daran, dass es Menschen gegeben hat, die ein besseres Deutschland wollten, dafür gestritten haben und in der Regel bitter enttäuscht wurden.
Nächstes Jahr übrigens gibt es in der Nationalgalerie die große Retrospektive »Kunst in der BRD«. Gibt es natürlich nicht. Wäre ja ganz undenkbar. Der Westen hat ja vor 15 Jahren gewonnen. Und wird sich noch eine ganze Zeit dem Glauben hingeben, dass dieser Sieg ein endgültiger war.

Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Friedrich-Ebert-Allee 4, Di-Mi 10-21, Do-So 10-19 Uhr, bis 13.2.05