»Unterdrückung ist der Kern der Politik«

 

Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu im Gespräch über Menschenrechte, Korruption und Verschwendung in seinem Land

Erst im November berichtete Amnesty International über die Situation von Gefangenen in China: Polizeifolter und brutale Verhörmethoden stehen demnach immer noch auf der Tagesordnung, Gefangene werden von der Außenwelt isoliert, Rechtsanwälte massiv in ihrer Arbeit behindert, wenn sie überhaupt unabhängig auftreten dürfen.

 

Chinas prominentester Gefangener ist der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, der Bürgerrechtler und Schrift-steller sitzt seit 2009 im Gefängnis und ist zu elf Jahren Haft wegen »Untergrabung der Staatsgewalt« verurteilt. Seine Frau, die Dichterin und Fotografin Liu Xia, lebt de facto unter Hausarrest. Jahrelang gab es keine Nachrichten von beiden, erst dieses Jahr sind einige Briefe und Mitteilungen an die Öffentlichkeit gelangt.

 

Einer der Adressaten ist unser Gesprächspartner, der Schriftsteller Liao Yiwu. Er lebt seit 2011 im Berliner Exil und ist hier zu allen Ehren gelangt, so ist er Gründungsmit-glied der in Köln ansässigen Akademie der Künste der Welt. Die Jahrzehnte zuvor waren für ihn von Folter, Haft und permanenter Behinderung seiner Veröffentlichungen geprägt. Ein Gedicht reichte, um den heute 57-Jährigen 1990 zu einer vierjährigen Haftstrafe zu verurteilen: Unmit-telbar nach dem Blutbad auf dem Tian’anmen-Platz am 4. Juni 1989 schrieb und verteilte er den Klagegesang »Massacre«. Die harten Zustände im Gefängnis trieben Liao zu zwei Selbstmordversuchen.

 

Seine großen Bücher — fünf liegen in deutscher Übersetzung vor — sind eine einzigartige Mischung aus Sozialreportage, Interviewkunst und Autobiografie. Sie nehmen radikal die Sichtweise der Ausgegrenzten und Hinabgesto-ßenen ein und berichten von einem China, über das niemand, weder im Osten noch im Westen, gerne spricht. Zur-zeit arbeitet Liao an einem Bericht über seine Flucht. Am 11. Dezember veranstaltet Amnesty International in der Partnerstadt Pekings — in Köln — eine Gedenkveranstaltung für Liu Xiaobo und Liu Xia. Liao Yiwu wird die Rede halten.

 

 

Herr Liao, der Kölner Abend steht unter dem Motto »Ein verlogenes System durch Wahrheit untergraben«. Worin besteht für Sie diese Verlogenheit?

 

Spätestens nach 1989, nach der Niederschlagung der Studentenbewegung und dem Massaker auf dem Tian’anmen-Platz, hat sich die chinesische Regierung dazu entschlossen, den Kapitalismus zu umarmen und den westlichen Weg einzuschlagen, nicht aber die westlichen Werte, wie sie in den Menschenrechten zum Ausdruck kommen, zu übernehmen. Der Weg ist ein diktatorischer Kapitalismus ohne Ethik. Dabei spekuliert die chinesische KP darauf, dass die ganze Welt, nicht nur der Westen, bereit ist, für Wirtschaftswachstum alles zu tun, ihm alles unterzuordnen. Vor diesem Hintergrund kann sich die Partei als ehrlicher Makler darstellen, der sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder nicht einmischt, sondern nur Interesse an Investitionen und Geschäften hat. Aber für China bedeutet die Mischung aus Kapital und Diktatur eine Katastrophe. Der Schatz des Westens sind seine Menschenrechte, Demokratie und Freiheit, aber im Umgang mit China verzichtet er darauf. Das ist eine politische Haltung, die nicht nur für die Menschen in China nichts Gutes bedeutet, sondern den Westen selbst bedroht.

 

 

China hat im 20. Jahrhundert einige der schlimmsten sozialen Katastrophen der Menschheitsgeschichte durchlitten: die japanische Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, Maos »Großer Sprung nach vorne«, der der Bevölkerung unbeschreiblichen Hunger bescherte, schließlich die Kulturrevolution. Ist es da nicht verständlich, dass die chinesische Gesellschaft ihr Glück im Privaten und im Konsum sucht und sich mit einer immerhin stabilen Diktatur arrangiert?

 

In den Genuss von wirtschaftlichem Wohlstand kommt nur eine Minderheit in den Städten. In Wirklichkeit wächst die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern tagtäglich — und dieses Wachstum geht auch auf Kosten der Umwelt, ganze Berge und Flüsse sind schon verloren. Dagegen gibt es Protest, überall in China. Die Partei reagiert darauf mit Unterdrückung und harten Strafen, damit die Unruhen isoliert bleiben. Das Internet wird gesperrt, so kann keine Kommunikation zustande kommen. Unterdrückung ist der eigentliche Kern der Politik der Partei und nicht wirtschaftlicher Wohlstand für möglichst viele. Deshalb muss Druck von außen aufgebaut werden. 

 

 

Genau diese Forderung wurde Ihnen, etwa vom Sinologen Wolfgang Kubin, vorgeworfen: Sinnvolle, auf konkrete Reformen abzielende Kritik könne nur von innen erfolgen.

 


Kubin hat in China eine Gastprofessur innegehabt, die bekommt man nicht als Systemkritiker, seine Bücher sind ins Chinesische übersetzt, meine durften dort nicht erscheinen. Sein Erfolg ist legitim, auch seine Meinung, das bestreite ich gar nicht. Aber er sollte um ihre Grenze wissen.

 

 

War das Regime von Anfang an korrupt und repressiv oder hat es sich durch Ereignisse wie eben die Kulturrevolution oder die Niederschlagung der Studentenbewegung selbst delegitimiert?

 

Die Stunde Null, wenn man davon reden will, ist nicht der Sieg Maos 1949, sondern das Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Japaner gegen die vereinten Kräfte der Nationalisten und der Kommunisten verloren hatten. 1945 hat Mao nicht von seiner Revolution gesprochen, sondern von einer demokra-tischen Perspektive für China. Daraus ist nie etwas geworden, es folgten Bürgerkrieg, eine blutige Landreform, schließ-lich eine Hungerkatastrophe mit vierzig Millionen Toten. Die Kultur-revolution der 60er und 70er Jahre war der Versuch einer kollektiven Gehirnwäsche, jegliche Verbindung der Menschen zu ihrer Tradition sollte gekappt werden. Das waren keine Unglücke und auch kein Ausdruck von Korruption.

 

 

Trotzdem wird die Korruption immer wieder benutzt, um die chinesischen Zustände zu beschreiben.

 

Da ist auch was dran. Der Führungszirkel zu Maos Zeiten war immer korrupt, aber die Führung war sehr darauf bedacht, dass die Korruption auf diesen Zirkel beschränkt blieb. Korruption war kein Merkmal der chinesischen Gesellschaft. Maos Nach-folger Deng Xiaoping hat nach 1979 die Büchse der Pandora geöffnet. Bekannt ist sein Ausspruch, dass ihm egal sei, ob die Katze weiß oder schwarz ist, Haupt-sache sie fange Mäuse. Das wird im Westen häufig als Aus-druck erfreulicher Pragmatik gewertet, aber es ist nur ein weiterer Schritt in der Zerstörung von Ethik. Gewissenloses Handeln wurde mit dieser Maxime zum Leitbild der Gesell-schaft erhoben. Und heute? Heute wird Armut als individu-elles Ver-sagen angesehen, wer unten ist, der hat es auch verdient.

 

 

In ihren Büchern porträtieren sie frühere Aktivisten, zum Beispiel einen jungen Rotgardisten während der Kulturrevolution oder auch einen parteitreuen Komponisten. Diese Leute haben an eine Mission geglaubt, für sie war der Maoismus ein Auftrag. Wenige Jahre später wurden sie brutal abserviert.

 

Dieses Regime war groß darin, ungeheure Mengen menschlicher Energie und Hoffnung zu verschwenden. Dabei hat auch der fanatische Rotgardist ein Recht darauf, mit seinem Schicksal gehört zu werden. Wer sich früher an der vordersten Front des Klassenkampfs wähnte, gehört heute zum Bodensatz.