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Das Aschenputtel-Prinzip

Auf die Flucht folgt das lange Warten.

Eindrücke aus Köln

Socken sind begehrt: Die »Drehscheibe« am Flughafen

 

Wegweiser sind in Deutschland blau — auch am Bahnsteig des Flughafens Köln/Bonn. 520 Menschen, meist aus Afghanistan und den kurdischen Gebieten in Irak und Iran, kommen an einem Montagnachmittag Anfang Oktober hier mit einem Sonderzug aus Passau an. Rund ein Dutzend Freiwilliger mit blauen Westen weist ihnen den Weg zur »Drehscheibe«. Nach zwei Stunden Pause werden die Geflüchteten mit Bussen auf die Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes verteilt: nach Bielefeld, Wuppertal, Wimbern im Kreis Soest, oder wo sonst gerade Plätze frei sind. »Wir bieten medizinische Versorgung, haben eine Essensausgabe und eine Kleiderkammer«, sagt Gregor Timmer, Sprecher der Stadt Köln. Auf der Kiesfläche vor dem Flughafen ist es kalt und windig, viele Kinder tragen nur T-Shirt und halblange Hosen, Socken sind begehrt.

In den Zelten herrscht geordnetes Chaos. Das Ausländeramt hat Dolmetscher für Urdu, Farsi oder Dari bestellt. Es gibt Essen, dann werden über das bereitgestellte WLAN Freunde und Verwandte kontaktiert. Die Vorbereitungen laufen, die Flüchtlinge mit Bussen in die NRW-Erstaufnahmelager zu bringen, aber immer wieder gehen kleine Gruppen zum Bahnsteig zurück: Sie haben andere Ziele.

 

»Ich will nach Schweden oder Dänemark, weil ich dorthin meine Familie nachholen kann«, sagt der 24-jährige Navid auf Englisch. Navid hat in Afghanistan sieben Monate als Übersetzer für die US-Streitkräfte gearbeitet, jetzt fürchtet er um das Leben seiner Mutter, die Anwältin ist, und um das seiner Geschwister. »In die USA kann ich nicht gehen«, sagt er. »Dafür hätte ich ein ganzes Jahr für die Armee arbeiten müssen.« Also hat er sich über die Türkei, das Mittelmeer und den Balkan nach Deutschland aufgemacht. Zehn Tage hat er gebraucht. Jetzt steht Navid auf dem Kiesplatz und will wissen, ob er gefahrlos nach Berlin reisen kann, wo sein Cousin wohnt. Die Mitarbeiter der Ausländerbehörde raten ab — er solle besser mit dem Bus in die Erstaufnahme fahren. Eigentlich wäre es sinnvoll für die Flüchtlinge, bei Verwandten oder Freunden unterzukommen, aber abgesehen davon, dass viele kein Geld für die Weiterreise haben, droht den meist illegal Eingereisten bei einer Kontrolle im Zug die Festnahme. Auch Navid, der einen Bachelor in Ingenieurswissenschaften hat und in Afghanistan in der Flughafenverwaltung gearbeitet hat, ist illegal hier. Seinen Pass habe er in Griechenland abgegeben, sagt er. Er telefoniert noch mal mit seinem Cousin, tauscht Geld — und macht sich dann doch auf in die Hauptstadt.

 

 

Schulbesuch und Beschlagnahmungen: Flüchtlingspoltik in Köln und NRW

 

Manchmal sitzen Kornelia Meder vom Anti-Rassismus-Büro der Caritas und der Kölner Initiative »Schulplätze für alle« Kinder gegenüber, die sie mit Tränen in den Augen fragen: »Warum darf ich nicht in die Schule?« Neulich habe sie eine Frau betreut, deren Tochter an 70 Schulen abgelehnt wurde. Die Initiative »Schulplätze für alle«, zu der sich rund 20 Organisationen zusammengeschlossen haben, setzt sich dafür ein, dass alle Kinder in Köln unabhängig vom Aufenthaltsstatus einen Schulplatz bekommen. Nach dem NRW-Schulgesetz sind Flüchtlingskinder aber nur schulpflichtig, wenn sie gemeldet und einer Kommune zugewiesen sind. In der Notunterkunft an der Herkulesstraße warten rund 160 Kinder auf den Schulbesuch, teilweise bis zu einem Jahr. »Die Kinder wollen unbedingt lernen«, sagt Kornelia Meder. »Stattdessen sitzen sie da und haben nichts zu tun. So kann Integration nicht glücken.«

 

Die Initiative fordert eine Änderung des Schulgesetzes. In anderen Ländern, etwa Berlin und dem Saarland, haben neu zugewanderte Kinder von Anfang an Anspruch auf Schulbildung. Meder kritisiert auch die Stadt Köln. »Die Stadt muss unbürokratisch Schulplätze zur Verfügung stellen. Andere NRW-Kommunen machen das besser.« In Aachen dürfen Flüchtlingskinder spätestens ab einem Aufenthalt von drei Monaten eine Schule besuchen — egal, ob sie zugewiesen sind oder nicht. Monika Düker, flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag, hält das NRW-Schulgesetz dennoch für »strukturell richtig«. Das Problem sei vielmehr, dass gerade unerlaubt eingereiste Familien so lange auf eine Zuweisung warten müssten. »Die Bezirksregierung in Arnsberg ist in einer absoluten Notlage«, sagt Düker. »Die Umverteilung steht da momentan nicht an erster Stelle. Es geht darum, Obdachlosigkeit
zu vermeiden.«

 

Wie ernst es die Behörden mit dieser »Vermeidung von Obdachlosigkeit« nehmen, ist umstritten. Das Kölner Wohnungsamt hat bereits mehr als hundert Flüchtlinge abgewiesen und zu Verwandten oder Freunden geschickt. Auch der Bau von Notunterkünften kommt langsamer voran als geplant, bis Jahresende fehlen 2000 bis 3000 Plätze. Immer wieder kommt die Debatte um Zeltunterbringung auf, Verwaltung und Politik lehnen dies offiziell ab. Die Linke und die Wählergruppe Deine Freunde hatten den scheidenden Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) aufgefordert, sich bei der Landesregierung für eine Gesetzesänderung einzusetzen: Beschlagnahmungen sollen erleichtert werden, um Flüchtlinge unterbringen zu können. Während Hamburg als erstes Bundesland leerstehende Gewerbeimmobilien für Flüchtlinge beschlagnahmen will, lehnt NRW-Bauminister Michael Groschek (SPD) das ab: »Klassenkampf hilft nicht weiter.« Sein Parteikollege Jochen Ott spricht sich hingegen für das Hamburger Modell aus: »Ich will nicht, dass im Winter Flüchtlinge in Zelten schlafen.« Ott kritisiert die Kölner Verwaltung. »Dann wird das beschlagnahmt, was man schnell beschlagnahmen kann: Turnhallen.« Dabei stünden viele Gewerbeimmobilien leer. »Uns erreichen ständig Hinweise von Bürgern, aber die Verwaltung tut mal wieder nichts«, so Ott.

 

 

Deutsch lernen mit Youtube: Die Zeltstadt in Chorweiler

 

Auf dem Parkplatz des Freizeitbades Aqualand in Chorweiler sind Zelte längst Realität. 840 Menschen sind in der Notunterkunft des Landes untergebracht und warten: Dass ihr Asylverfahren startet, sie einer Kommune zugewiesen werden. Dass nach all dem Elend, das sie erlebt haben, endlich die Zukunft beginnt. Allein auf die Registrierung, also die reine Erfassung durch die Ausländerbehörde, haben sie mehrere Wochen gewartet. Betreut wird die Einrichtung von den Johannitern, die für ihre Arbeit viel Lob bekommen. Dienst nach Vorschrift macht hier keiner: »Ich habe meinem Sohn sein Tip-Toi-Buch abgeschwätzt, das hilft vielleicht beim Deutsch­lernen«, erzählt Mitarbeiterin Hermine Urbaniak. Es gibt eine Kleiderkammer, ein Kinderzelt mit pädagogischer Betreuung, zwei Essenszelte und 13 Schlafzelte. In den Zelten ist es warm, draußen bereits im Oktober bitterkalt. Eine Frau, deren zweijähriger Sohn mit einem Bobbycar durch die Gegend fährt, sagt: »Meine Kinder sind fürchterlich krank, rennen aber trotzdem ständig raus. Was soll ich tun?« In den geschlechtergetrennten Zelten gibt es 80 Plätze, die Menschen haben Bettlaken aufgehängt, um ihre »Schlafkoje« mit je zwei Etagenbetten und einem Spind vom Nachbarn abzutrennen. »Ich habe großen Respekt vor vielen Familien hier«, sagt Hermine Urbaniak. Vier Jugendliche aus Syrien sitzen gerade im Aufenthaltszelt und schauen auf ihre Handys. Jeden Tag treffen sie sich hier, um mit einem Youtube-Video Deutsch zu lernen. Inzwischen geben auch die Johanniter mehrmals am Tag Deutschkurse, obwohl das eigentlich nicht zu ihren Aufgaben gehört. »Ich habe so viele Ziele, aber alles dauert so lange. Ich will Deutsch lernen. Arbeiten. Für meine ­Kinder ein neues Zuhause aufbauen. Endlich die Angst los werden«, sagt ein junger Familienvater aus Syrien, der nach seinem Studium im Libanon gelebt hat. In der Zeltstadt werden noch Herrenschuhe und Schreibblöcke gebraucht. Spenden können bei den Johannitern in der Frankfurter Str. 666 in Ostheim abgegeben werden.

 

 

Scharia auf evangelisch: Das Kirchenasyl

 

Ein Dach über dem Kopf hat Familie Norentsayan derzeit, die Angst sind sie noch nicht losgeworden. Ani Norentsayan, ihr Mann und ihre beiden Kinder leben im Kirchenasyl in der evangelischen Gemeinde in Worringen. Sie haben Angst, beim nächsten Vorsprechen bei der Behörde verhaftet und abgeschoben zu werden. Der Grund ist »Dublin III«. Nach dieser EU-Verordnung müssen Flüchtlinge in dem Land den Asylantrag stellen, in dem sie in die EU eingereist sind. »Wir kannten das Dublin-Abkommen nicht«, sagt Norentsayan. Ende 2014 ist sie mit ihrer Familie von Armenien mit einem Touristen-Visum nach Liechtenstein geflohen. »Mein Mann hatte einen Autounfall mit einem Verwandten eines hohen Regierungsbeamten«, erzählt sie. »Er war nicht schuld, hat aber die Reparatur bezahlt.« Schließlich wurde ihr Ehemann wegen eines erfundenen Vergehens vor Gericht gestellt und zu drei Jahren Haft verurteilt. »In Armenien kann man Menschen umbringen, ohne dafür ins Gefängnis zu müssen«, sagt Norentsayan. Nach der Entlassung ihres Mannes beschließt die Familie, zu fliehen. In Liechtenstein freunden sie sich mit einer armenischen Familie an, und als sie entdecken, dass diese Kontakt zur armenischen Regierung hat, verlassen sie das Fürstentum. Eine zweimonatige Reise durch Notunterkünfte in Baden-Württemberg und NRW beginnt, die schließlich in Worringen endet. Anfang Oktober war die Familie sechs Monate in Deutschland, jetzt kann sie nicht mehr nach Liechtenstein abgeschoben werden — dank des Kirchenasyls. Deshalb wurde die Evangelische Kirche zuletzt von Bundesinnenminister Lothar de Maizière (CDU) attackiert. Er verglich das Kirchenasyl mit der Scharia, weil es die Religion über den Staat stelle. »Es ist ziviler Ungehorsam«, sagt hingegen Pfarrer Volker Hofmann von der Worringer Gemeinde. Vor Familie Norentsayan war ein syrischer Englischlehrer im Kirchenasyl. Sein Asylantrag wurde soeben anerkannt. »Neun Familien suchen in Köln derzeit Schutz vor Abschiebung in einer evangelischen Kirche«, erzählt Thomas Flörchinger, Koordinator bei »Asyl in der Kirche«. Bundesweit sind es rund 290 Fälle, um die 40 in NRW. Seit Jahresbeginn nehme die Zahl stetig zu, sagt Flörchinger.

 

 

Guter Flüchtling, schlechter Flüchtling: Asylrecht gilt nicht für Roma

 

»Es kommt eine riesengroße Abschiebewelle auf uns zu«, befürchtet Hasiba Dzemajlji, die seit rund zwei Jahren in der Sozialberatung des Rom e.V. arbeitet. Hintergrund ist die derzeitige Verschärfung des Asylrechts: Ende 2014 wurden bereits Serbien, Bosnien und Mazedonien zu »sicheren Herkunftsländern« erklärt. Jetzt will die Bundesregierung auch Albanien, das Kosovo und Montenegro in diese Liste aufnehmen. So soll die Arbeit der Behörden verkürzt werden. Organisationen wie Pro?Asyl kritisieren dies als Aushöhlung des individuellen Rechts auf Asyl. Schutzsuchende durchlaufen dann kein vollwertiges Verfahren mehr, sondern müssen nachweisen, dass sie abweichend von der allgemeinen Lage in ihrem Land verfolgt werden.

 

Zahlreiche Studien belegen die menschenunwürdige Lage der Roma-Minderheit auf dem Westbalkan: kein Zugang zu medizinischer Versorgung und schulischer Bildung, Vergewaltigungen, Gewalttaten, Zwangsenteignungen, die zu einem Leben am Rande von Müllhalden führen. »Roma sind keine Armutsflüchtlinge«, sagt Dzemajlji, die im heutigen Kosovo aufgewachsen und vor 27 Jahren nach Deutschland gekommen ist. »Es geht um Leben und Tod. Wenn mein Kind in der Schule blutig geschlagen oder auf dem Heimweg vergewaltigt wird, schicke ich es da nicht mehr hin. So fängt der Kreislauf an.« Nach Schätzungen des Rom e.V. sind 80 bis 90 Prozent der Westbalkan-Füchtlinge Roma. »In der derzeitigen Politik äußert sich ein institutioneller Antiziganismus«, sagt die Roma-Aktivistin. Auch Claus-Ulrich Prölß vom Kölner Flüchtlingsrat ist alarmiert über die »Hardliner-Politik«. Er sagt: »Wir haben schon länger gesetzliche Regelungen, die nach dem Aschenputtel-Prinzip funktionieren: guter gegen schlechter Flüchtling.« Deutschland zeige sich eine Woche offen, um dann im Stillen das Asylrecht gnadenlos einzuschränken, so Prölß. »Das ist absolut beschämend.«