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Willkommenskultur und rassistischer Terror

Deutschland reagiert mit einem Wechselspiel von Euphorie und Abwehr auf Geflüchtete. Darin zeigt sich ein nationalstaatliches Denken, das schon lange überholt ist

Tagtäglich überschlagen sich die Nachrichten über rassistische Angriffe auf Nicht-Deutsche oder solche, die dafür gehalten werden, sowie über Brandanschläge auf Häuser und Unterkünfte für Geflüchtete. Wer die 1990er Jahre erlebt hat, kann nicht umhin, die Parallelen zu der Zeit nach dem Mauerfall zu erkennen, als im Freudentaumel der Wiedervereinigung unzählige Angriffe, Morde und Pogrome auf »Asylanten«, wie es damals noch hieß, stattfanden. Auch damals sprach die Politik von den Sorgen der Bürger vor »Überfremdung«, von einem »Boot«, das »voll« sei und von der »Überlastung der Kommunen«. Zum Beweis karrte man viele Menschen in zentrale und völlig überfüllte Wohnheime, wo sie dem Hass des ortsansässigen und angereisten Mobs ausgeliefert waren. Auch damals weigerte man sich, rassistische Ansammlungen vor den Unterkünften zu unterbinden. Vielmehr spielte man die Karte des wehrlosen und überforderten Staates. Dennoch: damals gab es keine sogenannte Willkommenskultur in den Städten und Kommunen, wie wir sie heute beobachten können. Mehr als fotogene Lichterketten und Gesten der Scham vor den Augen der Welt konnte in der gesellschaftlichen Mitte nicht erreicht werden, während heute Tausende von Bürgerinnen und Bürgern jene solidarische Arbeit leisten, die der Staat vernachlässigt.

 

Dieser Wandel kann sicherlich als ein Ausdruck der Auseinandersetzungen mit den 1990er Jahren verstanden werden. Zwar bildeten sich aus den besorgten Bürgern von damals neonazistische Terrorzellen wie der NSU heraus. Aber aus den antirassistischen Kämpfen der Migranten und Migrantinnen entwickelte sich ein Bewusstsein, das tief in die Gesellschaft wirkte. Wenn es heute selbstverständlich erscheint, dass in jeder Grundschule über Rassismus geredet und dieser vor jedem Fußballspiel verurteilt wird, und dass überhaupt von Rassismus gesprochen wird, dann ist das Ausdruck jener gemeinsamen Anstrengung von migrantischen und antirassistischen Gruppen, die sich gegen den nationalen Taumel der 1990er stellten — sowohl praktisch als auch intellektuell.

 

Dennoch erscheint einiges an der aktuellen Willkommenskultur merkwürdig. Denn durch die Begeisterung über die eigene Humanität schimmert eine damit verbundene Drohung. So wird in Zeitungs- und Fernsehberichten permanent ein bedrohliches Bild heraufbeschworen, in dem die humanitäre Geste mit der Rede von einer »Stimmung« korrespondiert, die »zu kippen« drohe: Nicht mehr lange, und »es fallen Zivilisationschranken« (de Maizière). Der »Pegida-Galgen«, die Ausschreitungen vor Flüchtlingsunterkünften, die Toten im Mittelmeer und nicht zuletzt das Attentat auf Kölns neue Oberbürgermeisterin Henriette Reker haben gezeigt, dass diese Schranken bereits vielerorts gefallen sind.

 

 

Menschen kommen und gehen, weil sie müssen oder wollen, aus Not
oder Neugierde, aus Hoffnung auf ein
besseres Leben oder aus Zufall

 

 

Das Wechselspiel von euphorischem Entdecken des Fremden, bei dem man den Eindruck hat, dass die Deutschen vor der aktuellen »Flüchtlingskrise« noch nie einen Ausländer in ihrem Leben gesehen hätten, bei gleichzeitiger Abwehr gegen die vermeintlich Anderen hat eine lange Tradition. Es zeigte sich bereits in den Übergriffen gegen die ersten »Gastarbeiter« ab Mitte der 1950er Jahre, während gleichzeitig junge Deutsche in Großstädten begannen, migrantische Lebensformen in ihren Subkulturen zu imitieren,  was uns heute selbstverständlich erscheint. Verschiedene Rassismen hatten unterschiedliche Konjunkturen, weil sie unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen besaßen. Die vermeintlich positive Exotisierung der Südeuropäer in den 50er bis 70er Jahren korrespondierte mit einer Abwertung, welche sicherstellte, dass die »Gastarbeiter« nur im untersten Segment der Ökonomie ein Auskommen fanden. Der Diskurs um den sogenannten Illegalen, wie er in den frühen 2000er Jahren dominant wurde, erzeugte zugleich Bedrohungspotenzial und Verständnis. Dies war notwendig, um die Eingewanderten, die sich den hoffnungslosen Verfahren in den tristen Lagern entzogen und ihr Glück auf eigene Faust suchten, in rechtlosen Verhältnissen zu halten und darin fein ausdifferenziert auszubeuten; so wie die Baubranche auf »den Illegalen« angewiesen war, so waren auch unzählige Privathaushalte von den Pflegediensten und der Carearbeit papierloser Frauen abhängig. Die gegenwärtige Spaltung der Nachkommen der Gastarbeiter in Europäer und Muslime, wie sie der neuartige antimuslimische Rassismus im permanenten »war on terror« nach 9/11 nach sich zog, folgt hingegen keiner ökonomischen Logik. Und auch die aktuelle Aufspaltung der Geflüchteten in legitime Notleidende, die Krieg und Zerstörung zu entkommen suchen, und illegitime Besitzlose, die etwas vom Reichtum Deutschlands für sich abschneiden wollen, besitzt eine eigene Logik, in der etwa der Antiislamismus erstaunlich abwesend ist, und die eher geostrategischen Plänen der Europäischen Union zu folgen scheint. Unter dem Stichwort der Bekämpfung von Fluchtgründen bemüht sich die EU um Infrastrukturprogramme in Krisenregionen, die zukünftige »Flüchtlingsströme« verhindern sollen. Der ständige Verweis darauf, dass die Geflüchteten aus Syrien keine andere Wahl hätten, als zu fliehen, behandelt Migration als eine zu lösende Ausnahmesituation, die nur in Form der gönnerhaften Hilfsgeste akzeptiert werden kann, die aber stets im Sinne einer Begrenzung oder Verhinderung von Migration »gelöst« werden muss. So hilft man inzwischen zwar gerne den gestrandeten Flüchtlingen, plädiert aber gleichzeitig für die Rückkehr in ihre Herkunftsländer.

 

Was in dieser Figur gerettet werden soll und scheinbar unberührt von der aktuellen Sympathiewelle gegenüber Geflüchteten bleibt, ist die Verschränkung von Bürgerrechten und nationaler Zugehörigkeit in einer Zeit, in der der Nationalstaat längst in eine Krise geraten ist. Denn die sogenannten Migrationsströme kümmern sich um die mehrheitsgesellschaftliche Gefühligkeit herzlich wenig. Migration findet statt, unabhängig von bürgerlicher Willkommenskultur oder völkischer Abschottung. Sie entlarvt den Kern eines Denkens, das sich gerade wegen seines Überholtseins umso aggressiver äußert: die Vorstellung, dass Rechte nur dann gewährt werden können, wenn sie an nationale Zugehörigkeit gekoppelt sind.

 

Menschen bewegen sich, sie kommen und gehen, weil sie müssen oder wollen, aus Not oder Neugierde, aus Hoffnung auf ein besseres Leben oder aus Zufall. Und sie erheben Forderungen nach einem guten Leben, nach Partizipation, nach Rechten, nach Ressourcen — sie nehmen sich Rechte, die sie nicht besitzen. Damit fordern sie die nationale Logik des Sozialstaats heraus, der von der Vorstellung lebt, dass die Ressourcen an eine Gemeinschaft verteilt werden, die durch ihre bloße nationale Zugehörigkeit eine Art Besitz an diesem Reichtum habe. Dabei müssten nicht die Flüchtenden erklären, warum sie kommen, sondern die Mehrheitsgesellschaft hat zu erklären, warum sie den Reichtum behalten und Zäune um ihn herum errichten darf. Mit welchem Recht wird das nationale »Wir« artikuliert?

 

Die Maßnahmen zur Regulierung der Migration hinken seit jeher den Entwicklungen und Bewegungen von Flucht und Migration hinterher. Grenzregime weisen abgestufte Lebenschancen zu, aber ihre Grundlage bildet der Rassismus. Dieser muss sich stets neu erfinden, um den Taktiken der Migration hinterherzukommen. Vom Ausländergesetz bis zum NSU-Terror soll eine Spaltung aufrecht erhalten werden, die die ungleiche Verteilung von Rechten und Ressourcen absichert. Die Autonomie der Migration anzuerkennen und sie solidarisch zu verteidigen, statt auf ein regulierendes Flüchtlingsmanagement zu setzen, ist deswegen das Gebot der Stunde.

 


Massimo Perinelli arbeitet als Historiker an der Universität Köln und ist in antirassistischen Initiativen aktiv