So gelassen, so rigoros

Agnes Martins fulminante Werkschau in der Kunstsammlung NRW

Die Kunstgeschichte, die spätestens seit der Moderne auch eine Kunstmarktgeschichte ist, besteht aus blinden Flecken, Ungerechtigkeiten und lauer Gewohnheit. Aber auch aus (Wieder)Entdeckungen und überfälligen Neubewertungen, schließlich aus Moden und erneutem Vergessen. Anschaulich werden diese Prozesse in den Museen, die diese Entwicklungen selbst vorantreiben. Mit Joan Mitchell im Kölner Museum Ludwig und Agnes Martin in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf sind derzeit parallel zwei bislang weniger bekannte amerikanische Malerinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in umfassenden Retrospektiven zu sehen.

 

Beide verbindet, dass sie wesentliche Aspekte ihrer Werke im New York der 50er Jahre entwickelten, dann aber die längste Zeit ihrer Tätigkeit zurückgezogen in metropolenfernen Provinzen lebten und arbeiteten: Mitchell in Frankreich, Martin in New Mexico. Denkbar verschieden sind ihre malerischen Werke. Stets gestisch ausgreifend und farblich brillant entfaltet Mitchell bereits früh ihre Spielart des Abstrakten Expressionismus. Die gut ein Jahrzehnt ältere Agnes Martin kommt 1912 in Kanada zur Welt. Zur Lehrerin ausgebildet, beginnt sie als Mittdreißigerin ihr Kunststudium. 1958, inzwischen in New York lebend, hat sie dort ihre erste Galerieausstellung. Erst um 1960 findet sie ihre ganz persönliche, strenge und doch durchlässig-leichte Bildsprache aus Rastern und Reihungen, Feldern und Bändern. Ihr genügen, neben einer reichen Grauskala, wenige gebrochene Farben.

 

Eine Einzelgängerin war Agnes Martin wohl Zeit ihres Lebens, ihr Werk ist ein Solitär, kaum unterzubringen in einer der gängigen Kunstrichtungen der frühen 60er Jahre, selbst ihre vermeintliche Nähe zum Minimalismus ist ein Missverständnis. Ihr Außenseitertum, ihr Eigenwillen, vielleicht auch ihre labile Psyche führen 1967 zur Aufgabe der Malerei, sie verlässt New York und schreibt dazu in einem Brief: »Ich muss es mal mit der Unabhängigkeit versuchen. Ich werde mehr Zeit brauchen.« 1968 findet sie einen neuen Lebensort in der tiefsten Provinz New Mexicos. Einige ihrer merkwürdigen, oft unterschätzten Texte und Vorträge entstehen und die Grafikfolge »On a Claer Day«. Erst 1974 beginnt sie wieder zu malen, ist bis kurz vor ihren Tod tätig, 2004 stirbt sie mit 92 Jahren. Dreimal Dokumenta, Biennale Venedig, erstklassige Galerien, Auszeichnungen, umfassende Ausstellungen bereits zu Lebzeiten haben nichts daran geändert, dass Agnes Martin — in Europa mehr als in den USA — bis heute eine große Unbekannte geblieben ist.

 

Fast alle Werke sind quadratisch, lange Zeit nutzt Martin ein einziges großes Format für ihre Malereien und ein kleines für ihre Papierarbeiten. Zunächst arbeitet sie mit gleichmäßigen Rastern und Strukturen, später sind es allein horizontale Gliederungen, Teilungen der Fläche. Bei aller Reduktion der Mittel wiederholt sie sich nicht, findet stets andere Rhythmen, Abfolgen, Proportionen. Sichtbar ist, dass ihre Linien und Farbbahnen Handarbeit sind, präzise und konzentriert, aber auch mit dem gewissen Quantum Ungenauigkeit und Schwankungsbreite, was — bei allem freundlichen Rigorismus — alle Arbeiten atmen lässt. Es sind Bilder der Weite, des Lichts, die im Erdgeschoss unter den sicherlich sehr vernünftigen Vorgaben der Konservatoren bei recht gedämpfter Beleuchtung zu betrachten sind. Im Obergeschoss aber, dem zweiten Teil der chronologischen Ausstellung, der sich ganz den ab 1974 entstandenen Malereien widmet, gibt es viel Raum und großzügiges Licht, ein Bilderfest.

 

Eine Retrospektive wie diese ist mit ihren rund 130 Werken ein Glückfall und zugleich ein Problem. Wunderbar ist der umfassende Blick auf ihr Werk. Gleichzeitig verursacht diese Fülle auch eine Kannibalisierung der Aufmerksamkeit. Alles soll und will gesehen sein, was es nahezu unmöglich macht, die Konzentration, die gelassene Offenheit für ein Bild, seine besondere Schönheit aufzubringen, sich intensiv einzusehen. Und vielleicht das zu erleben, was Martin 1973 als »Funktion der künstlerischen Arbeit« benannt hat, nämlich die »Anregung von Empfindungen, der Erneuerung von Erinnerungen an Augenblicke der Vollkommenheit.«

 

Die Luxuslösung wären mindestens zwei Besuche dieser Ausstellung. Ein erster würde der Gesamtübersicht gelten, dann aber, beim Wiedersehen, ginge es um ausführliches Verweilen vor einigen wenigen Bildern. Es ginge um ein ebenso zeit- und selbstvergessenes wie selbstbewusstes Weitersehen, um sich mit diesem großartigen Werk endlich bekannt zu machen.