Ausgelöschte Minuten des schwarzen Tags von Jarmuk

Im Süden von Damaskus liegt das palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk. Der Autor und Schriftsteller Ramy Al-Asheq ist dort aufgewachsen und kämpfte gegen das Assad-Regime. Heute lebt er in Köln und erzählt für die StadtRevue von seinen letzten Tagen im Lager

Sie gingen fort, wie sie vor sechzig Jahren fortgegangen waren. Nichts war anders. Was sie zurückließen, war dasselbe, was sie beim ersten Mal zurückgelassen hatten. Was sie mit sich nahmen, war dasselbe, was sie beim ersten Mal mitgenommen hatten. Nichts war anders.

 

Sie ließen nur das zurück, was sie nicht tragen konnten. Sie ließen Häuser voller Erinnerungen zurück, Straßen, die tagtäglich ihre Füße strapaziert hatten, Kleidung, die ihren Geruch in sich trug und diesen unter der Asche konservierte. Sie ließen dieselben Namen zurück: Haifa, Jerusalem, Karmel, Castel, Tira, Lubya und Safed, sie -ließen den alten und auch den neuen Märtyrerfriedhof zurück.

 

Und vielleicht hat ja keiner bemerkt, weshalb es nicht erwähnt wurde, dass einer von ihnen eine Wasch-maschine zurückgelassen hat, in der sich seine gesamten Ersparnisse für die Hochzeit seines Sohnes befanden. Auch hat niemand erwähnt, dass einer von ihnen sein Musikinstrument unter dem Tisch zurückgelassen hat, und dass ein Teenager ohne die Fotos seiner Geliebten und ohne die Hefte mit seinen schwachen Gedichten von dannen gezogen ist. Keiner hat erwähnt, dass sich der neue Plasmabildschirm noch immer in seiner Verpackung befindet und dass seine Besitzer ihn nicht ausprobieren und sich nicht um ihn versammeln konnten, so wie sie sich bei Kälte um ein Feuer versammeln. Keiner hat daran gedacht zu sagen, dass diese Kinder ohne ihr Spielzeug fortgegangen sind und dass ihre stillenden Mütter das Land verließen, während die Milch in ihren Brüsten geronnen war. Sie gingen fort, wie sie beim ersten Mal gegangen waren … mit ausdruckslosen Gesichtern.

 

Nichts war anders. Die gleichen Namen, die gleichen zerstörten Träume, derselbe Mörder, wenn sich auch sein Name geändert hatte, dieselben Leichen, wenn auch nach all dieser Zeit. Sie ließen sie zurück undzogen fort, sie konnten sie bei ihrer zweiten Emigration nicht mitnehmen.

 

Einer fragt einen anderen: »Ist das die zweite Flucht?« 

 

»Nein, wir haben doch aus der Vergangenheit gelernt, uns nicht an ein Zelt zu klammern, selbst wenn das Flüchtlingslager kein Zelt war. Ich werde bleiben. Ich werde mich ein paar Tage lang in die nähere Umgebung zurückziehen und dann zurückkehren. Ich werde nicht noch einmal ein Flüchtling sein.«

 

»Dann bleib doch! Ich habe den Glauben an diese Heimat verloren. Ich werde weit weggehen, um meiner Kinder Willen. Klammere dich, wie du willst … an den Tod!«

 

»Wer es schon einmal erlebt hat, ein Flüchtling zu sein, weiß genau, dass er nicht erneut ein Flüchtling sein möchte: in einem Land, das er nicht kennt, mit einer Sprache, die er nicht beherrscht, und einem völlig fremden Volk. Die Zeit reicht nicht mehr aus, um es erneut zu versuchen. Geh du nur … Ich aber werde mich an diesen Tod klammern, um zu leben. Ich kenne diesen Tod. Der Tod, den man kennt, ist besser als der, den man nicht kennt!«

 

Sie gingen fort, so wie sie Palästina verlassen hatten. Sie ließen das zurück, was sie auch damals zurückgelassen hatten. Nahmen Erinnerungen an zerstörte Häuser mit sich, so viele Narben, wie das Lager Bewohner hatte, dazu Kleidung nur für zwei Tage, einige ihrer Ausweis-papiere und die Schlüssel für ihre Häuser, auch wenn die Schlüssel dieses Mal kleiner waren. Auf dem Friedhof lagen jetzt mehr Tote, dafür gab es weniger Marmor. Keiner erfuhr, dass die Ersparnisse für die Hochzeitsfeier, die der Vater in der Waschmaschine zurückgelassen hatte, weil er gefürchtet hatte, dass sie ihm am Checkpoint gestohlen werden könnten, zusammen mit der ganzen Waschmaschine verloren gingen, und dass die Soldaten mit dem Musikinstrument ihre Scherze trieben, sich darum stritten, es sich gegenseitig auf die Köpfe schlugen, so dass sie es schließlich zerstörten. Als ob wir vom Militär etwas anderes hätten erwarten können! Sie gingen fort und wussten nicht, was danach passierte. Vielleicht sollten sie es jetzt besser auch nicht mehr erfahren, um die Hoffnung auf Rückkehr in ihrem Innern nicht zu beeinträchtigen.

 

Ein Jahr, nachdem sie das Lager verlassen hatten, erreichte sie die Nachricht, dass Hassan unter Folter gestorben war. Dieser Hassan … oder besser gesagt »jener«, der das Lager nicht verlassen wollte. Er wollte nur jedes Jahr ein Theaterstück schreiben und es im Lager zur Aufführung bringen — nur im Lager —, er wollte nicht berühmt werden. Er wollte nur normal sein, gewöhnlich, wie jedes andere Gesicht im Lager. Der Mörder jedoch erkannte die Gefahr, die von Hassan ausging und tötete ihn.

 

O du geliebte Ruine, du Ruine, die du über den Köpfen derer, die dich lieben, zusammengebrochen bist. Was wünschst du dir denn noch mehr, als dass wir die Hässlichkeit in dir schönreden? Was willst du denn noch mehr, als dass wir stolz darauf sind, zu den Ruinen zu gehören? Wir sind die Kinder der Ruinen und der Zerstörung. Zerstörer, Zerstörte, Hungernde … Potentielle Mörder, potentielle Ermordete, potentielle Lebende. Nichts gibt uns einen Namen, nur die Wellblechdächer und das Klischee eines »Lagerinsassen«. O du Flüchtling, der du entwurzelt und verfolgt wirst, du vertriebener Märtyrer! Warum hast du zwei Friedhöfen den gleichen Namen gegeben?!

 

Sie haben Hassan, den Komödianten, getötet, weil sie sich vor dem Lächeln fürchten. Sie haben ihn in der Dunkel-heit getötet und haben die Fänge der Finsternis ausgesandt, um uns alle zu töten. Da sind die Verbrecher der Nacht — sie töten am helllichten Tag im Namen Gottes am Jahrestag von Hassans Ermordung, am Jahrestag der Vertreibung der Menschen aus dem Lager. Hassan sagte immer: »Ich mag es, mich als syrischer Palästinenser vorzustellen.« Er ist also der Sohn der beiden Tode, seine syrische Identität hat ihn getötet, als seine palästinensische Identität ihn getötet hat. Und wer nicht von beiden Identitäten getötet wurde, wurde von einer der beiden getötet und blieb in der anderen nur körperlich lebendig mit einer heimatlosen, toten Seele ohne Grabstein. Das Letzte, was wir von Hassan gehört haben, war, dass er sagte: »Ich weiß noch, wie Damaskus früher aussah. Ich habe das Gefühl, ich werde es nicht wieder sehen.« Er hat Recht behalten.

 

Sie gingen fort, wie sie auch beim ersten Mal fortgegangen waren. Nichts war anders. Sie wurden ausgespien, so wie Hassans Körper seine Seele ausspeien musste. Genauso hatten es auch die syrischen MIG-Kampfflugzeuge mit ihnen gemacht, so machte es der syrische Geheimdienst mit Hassan und so machen es noch heute die Extremisten mit denjenigen, die unter der Belagerung geblieben sind.

 

Die StadtRevue veröffentlicht in Zusammenarbeit mit
»FremdwOrte — Interkulturelles Autorencafé« Texte von
Autoren und Autorinnen, die nach Köln geflüchtet sind