Amelie über den Gräben

Für die einen ist »Die fabelhafte Welt der Amélie« eine charmante Verklärung des Gewöhnlichen, für die anderen eine schamlose Verkitschung der Nouvelle Vague. Auch der neueste Film Jean-Pierre Jeunets dürfte wieder die Geister scheiden. Dabei ist »Mathilde« bei aller Postkarten-Romantik zunächst einmal ein klassisches Melodram: Weil fünf französische Soldaten sich selbst verstümmelt haben, werden sie von ihrer Generalität zwischen den Fronten des Ersten Weltkriegs ausgesetzt. Es ist ein Todesurteil, doch nach einigen Tagen erbitterten Abnützungskampfs scheinen die fünf Delinquenten vom Erdboden verschwunden zu sein. Einer von ihnen ist der Verlobte von Mathilde (Audrey Tautou), die nach Kriegsende Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um den Verbleib des Verschollenen zu klären. Sie will nicht eher ruhen, bis sie ihren Geliebten oder zumindest seine Grabstätte gefunden hat.

Kleine Schrullen statt großer Gefühle

Erneut erweist sich Jeunet als versierter Arrangeur und Dekorateur einer vertrackten Erzählung. Die Suche führt Mathilde in Militärarchive, Wohnstuben und Spelunken, wobei Jeunet ihren Weg mit allerlei visuellen Preziosen schmückt und mit einer Vielzahl inszenatorischer Einfälle beschwert. So zielstrebig die Protagonistin ihr Vorhaben verfolgt, so gern lässt sich ihr Regisseur von kleinen Schrullen am Straßenrand ablenken. Für ihn ist der Weg das Ziel und das Schicksal der Vermissten ein Puzzlespiel widersprüchlicher Erinnerungen.
Ein von Mathilde beauftragter Detektiv scheint vor allem deswegen Augenzeugen zu Tage zu fördern, damit sich die fragile Hoffnung der Heldin notdürftig von deren Erzählungen nähren kann. Überhaupt sieht Jeunet in seinem historischen Stoff vornehmlich einen Fundus für Spezialeffekte, Ausstattungsdetails und Schauspielmarotten. Entsprechend reich an Kolorit und arm an dramatischer Entwicklung ist der Film. Je beharrlicher Jeunet das große Gefühl beschwört, desto weniger glaubt man ihm.

Historie als spielerischer Zauber

Als Melodram ist »Mathilde« eher kläglich denn grandios gescheitert. Doch im Grunde sind die Filme Jean-Pierre Jeunets ohnehin ein Genre für sich. Für »Amélie« entwarf er ein digital verzaubertes Paris, Ähnliches ist ihm nun mit dem Frankreich des Ersten Weltkriegs gelungen. Wegen seines manisch spielerischen Umgangs mit der Wirklichkeit haben französische Kritiker Jeunet vorgeworfen, seine Heimat in ein Puppenhäuschen verwandeln zu wollen. Gut möglich, dass er genau dies im Sinn hat. Er ist jedenfalls auf dem besten Weg dorthin.


Mathilde – Eine große Liebe (Un long dimanche de fiançailles) F/USA 04, R: Jean-Pierre Jeunet, D: Audrey Tautou, Gaspard Ulliel, Jean-Pierre Becker, 134 Min. Start: 27.1.