Praktiken im Grenzgebiet

Kunst und Musik kollaborieren. Irgendwie schon immer, aber erst als Phänomen der Popkultur wurde die Verschränkung hip und konnte sich im Kunstbereich institutionalisieren. Tom Holert untersucht die Erzählung von der Grenzüberschreitung und stellt Fragen zum »crossover« aktueller Ausstellungen in Aachen und Düsseldorf.

Auf einmal hockte da immer jemand auf dem Boden und legte Platten auf. Drumherum die Eröffnungsgäste, das Weißweinglas, die Kölschstange schwenkend. Pluckerbeats legten sich als akustischer Teppich unter das Kunst-, Sozial- und Trinkerlebnis. Viele Leute verzichteten auf die Kunst und blieben einfach in der Nähe des DJs stehen.
Als um die Mitte der 90er Jahre immer mehr Chill-Out-Zonen in Ausstellungsräumen eingerichtet wurden, begrüßten dies wohlmeinende Beobachter als Bereicherung der Institutionen der bildenden Kunst. Skeptiker argwöhnten, es handele sich um einen eher unangenehmen Akt der Kolonisierung. Technosounds in Kunstvereinen? Drohte das Spektakel der Massenkultur, nachdem es seit dem 19. Jahrhundert schon Fotografie, Happenings, Pop Art, Performances oder Video Art als trojanische Pferde in die Räume der Kunst eingeschleust hatte, jetzt mit einer neuen Finte? Bedenken, die gepflegt wurden, bis sie sich zerstreuten. Denn allzu gut funktionierte die Verbindung zwischen den kulturellen Partnern Kunst und Pop, gab sie allen Beteiligten doch viel Gelegenheit, Offenheit zu demonstrieren.
Jetzt kam ein anderes Publikum zu den Vernissagen. Junge Leute in Clubware mischten sich unter die angestammte Klientel in den schwarzen Uniformen aus der Designerboutique. Die meisten freute das, manche murrten weiter, andere wiederum betrachteten die Entwicklung abgeklärt als einen institutionellen Reflex auf Ermüdungserscheinungen des Betriebs. So nährte das verstärkte Interesse von KünstlerInnen und KuratorInnen an den sozialen und ästhetischen Erscheinungsformen der Populärkultur etwa die Spekulationen über den hinfälligen Zustand der Gegenwartskunst und ihrer Institutionen. »Crossover«, wie die Verschränkung von Kunst und Pop bald genannt wurde, schien in diesem Moment der Krise einen Strukturwandel anzudeuten, eine Wende hin zum Jugendlichen und Frischen.
Das lag zum einen an den KünstlerInnen, die im Lauf der 90er Jahre in Erscheinung traten. Wenn sie sich mit der Gegenwart beschäftigten (und was sollten sie vernünftigerweise anderes tun?) konnten sie auch nicht umhin, die prägenden Sozialisierungs- und Erziehungsinstanzen der eigenen Generation anzuerkennen. Die Welt von MTV und Viva, Plattenläden, Clubbing, Mode, Computerspielen und elektronischer Tanzmusik stellte aber auch dem Kunstmarkt ein Set von Verkaufsargumenten zur Verfügung. Indem der Markt diese Verjüngungsimpulse und Innovationspotentiale nicht von sich wies, sondern im Verbund mit den Institutionen gegen viele der Kunstwelt innewohnende Borniertheiten durchsetzte, entstand ein neues Feld der ästhetischen wie wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Dies jedenfalls wäre die optimistische Folgerung, die man aus solchen Entwicklungen in der Begegnungsstätte der Kultur ziehen könnte: Eine der Umwelten des Systems Kunst tritt in dieses ein und steigert seine Anschlussbereitschaft. Zugleich handelt es sich um die Erzählung von »Grenzüberschreitungen«, von »Mischformen«, »Synästhesien«, »Dekontextualisierungen« und »antipuristischen Tendenzen«. Diese Phänomene werden gern als Selbstzweck betrachtet: Man assoziiert die Auflösung von konventionellen Zuschreibungen zugunsten einer neuen Ordnung der Interkulturalität mit einer Befreiung von Zwängen. Als Vorbilder fungieren hier entsprechende politische Konzepte wie der Multikulturalismus.
Aber was als Entfernung von Barrieren gefeiert wird, schafft aller Regel nach nicht nur »befreite« Verhältnisse, sondern auch neue normative Gerüste, in denen über Zugang und Ausschluss entschieden wird. Insofern sollte man auch die Erscheinung des »Crossover« im Grenzbereich von Kunstbetrieb und Kulturindustrie als das verstehen, was sie dialektischerweise ist: als Einrichtung von Chill-Out-Zonen und Tanzflächen, aber auch als Herstellung neuer Normen der
Hipness und des (neo-) bourgeoisen Geschmacks; als Öffnung des Kunstbereichs für Formen der Repräsentation von Subjektivitäten und Lebensstilen, die hier bislang ein Randdasein gefristet haben, aber zugleich als Einführung eines neuartigen Wissens, mit dem die Machtverhältnisse in der Kunst sich in neuen Hierarchien organisieren.
Die Kategorien »Kunst« und »Musik« sind nun seit jeher entscheidende Protagonisten der Erzählung von der Grenzüberschreitung. Der Klangcharakter von Malerei, die visuelle Dimension der Musik sind seit Jahrhunderten Gegenstand ästhetischer Spekulationen und Experimente. Von Richard Wagners Gesamtkunstwerk bis zu Harald Szeemanns »Hang« zu demselben wird in der Moderne auf die Durchdringung von Bildern und Klängen gebaut – oder einfach auf deren Durcheinander. Mit Musikinstrumenten in kubistischen Gemälden oder synästhetischen Konzeptionen des abstrakten Klangbildes empfahl die klassische Moderne die Kommunikation der ästhetischen Röhren: Aufführungen musikalischer Kompositionen in avantgardistisch gestaltetem Ambiente, Informel-Bilder auf Jazz-Schallplattencovern, musizierende Maler und malende Musiker, raumgreifende Ambientinstallationen und künstlerische Bühnendekorationen für Tanztheater-Inszenierungen, Künstler, die Schallplatten an die Galeriewand nageln, und Musiker, die sich Strategien der bildenden Kunst aneignen.
Für all diese Versionen der Kollaboration und Verschränkung lassen sich Namen angeben und künstlerische »Positionen« benennen. Allein die Liste der TeilnehmerInnen der aktuellen Ausstellungen »WIEDERAUFNAHME/Retake« in Aachen, »EINGANG LINKS – Projekte zu Kunst und Musik in der Baustelle« in Düsseldorf vermittelt einen Eindruck vom Spektrum der Praktiken im Grenzgebiet von »Musik« und »Kunst«. Die Kölner Künstlerin Kyra Stratmann, die eine CD-Reihe mit Musik von KünstlerInnen herausgibt, lädt den New Yorker Künstlerkollegen Gen Ken Montgomery ein, im Kunstverein in Düsseldorf eine Klanginstallation aufzubauen, während die Hamburger Kuratorin Nina Möntmann den Liverpooler Turntable-Künstler Philip Jeck in dieselben Räumlichkeiten bittet. In Aachen wird »Silent Sound Recording (Berlin)«, eine künstlerische Notation einer Debussy-Komposition von Dave Allen, an die Wand projiziert, Andrea Bowers zeigt die Videoinstallation »Democracy’s Body – Dance Dance Revolution« und, ebenfalls als Videoprojektion, führt Rodney Graham vor »How I Became a Ramblin’ Man«; Tonträger-Objekte des New Yorkers Christian Marclay sind zu sehen sowie Adrian Pipers legendäre Video-Performances »Funk Lessons« aus den frühen achtziger Jahren, in denen die afroamerikanische Künstlerin und Theoretikerin ein weißes Kunstpublikum in die Geheimnisse des Funk einweihte.
Das Feld der ästhetischen Praktiken, die sich zwischen den Medien und Milieus der bildenden Kunst und der Musik bewegen, ist so groß, dass die Ankündigung, irgendwo werde das eine mit dem anderen »zusammengeführt«, »gemixt«, »kombiniert«, wenig weiterhilft. So müssen die kuratorischen Fragestellungen notgedrungen fokussiert werden. Die Kunst- und Musikwissenschaftlerin Ulrike Groos, die sich in den letzten Jahren um die Kartographie dieses inter- oder transmedialen Territoriums verdient gemacht hat, versucht in »WIEDERAUFNAHME/Retake« denn auch, aus dem allgemeinen Kunst/Musik-Themenblock einen Aspekt herauszuklopfen: das Problem »der künstlerischen Aneignung, Darstellung und Bearbeitung« von – dann allerdings wieder sehr weitgefasst – »verschiedensten Bereichen der Musik: Pop und Rock, Folklore, Klassik, Avantgarde.«
Es wird also letztlich weniger ein Problem entwickelt, als die Aneinanderreihung von Phänomenen betrieben. Der konzeptuelle Haken ist die im Grunde willkürliche Beobachtung von unterschiedlichen Kombinationen des Bildkünstlerischen und Musikalischen bei KünstlerInnen. Diese Beobachtung muss hinreichen, um die Ausstellung zu motivieren. Aber tut sie das?
Es sei die Frage erlaubt, worum es eigentlich geht, wenn der Nexus von bildender Kunst und Musik institutionalisiert und historisiert wird, wie es seit einigen Jahren zunehmend geschieht. Geht es um das Verhältnis zwischen den Medien Bild und Klang? Um die »fachfremden« Expeditionen von KünstlerInnen und MusikerInnen? Um die Aufmischung des künstlerischen Feldes durch innovative Kombinationen mit anderen kulturellen Feldern? Um die Herstellung eines Korridors zu den symbolischen und ökonomischen Ressourcen der Popkultur? Oder vielleicht um den Enthusiasmus der Kulturförderung für alle Projekte, die in Aussicht stellen, verschiedene gesellschaftliche Bereiche zu harmonisieren?
Zu empfehlen wäre jedenfalls, sich mit den konkreten Oberflächenstrukturen und Geräuschen auseinanderzusetzen, in denen sich das Ineinander von visuellen, performativen, klanglichen oder popkulturellen Prozessen materialisiert; darüber nachzudenken, welches »Crossover« zwischen gesellschaftlichen Räumen und Klassen jeweils stattfindet, wenn der Kontext von Museum, Kunstverein oder Galerie für Kunst/Musik-Hybride bemüht wird. Denn die Begriffe und Institutionen »Kunst« und »Musik« mögen die historischen Konstruktionen sein, die dieser Auseinandersetzung einen Rahmen setzen. Aber auch nicht mehr.