Problemlöser mit Blaulicht: Polizeiautos am Hauptbahnhof. Foto: Manfred Wegener

Eine Nacht und ihre Folgen

Nach den Übergriffen in der Silvesternacht gibt es viele politische Schnellschüsse. Eine ernsthafte Debatte über sexualisierte Gewalt bleibt aus, stattdessen werden Migranten stigmatisiert

Eigentlich ist der 16. Januar am Kölner Hauptbahnhof ein Samstag wie jeder andere auch. Jugendliche mit Einkaufstüten mischen sich mit Junggesellenabschieden und wie immer ist es etwas zu voll. Auf dem Bahnhofsvorplatz aber stehen Migranten und verteilen Rosen, auf einer Bühne sitzt der Pianist Ayham Ahmad, der aus Damaskus geflohen ist. Um ihn herum sind Kameraleute und Fotografen. »Syrer gegen Sexismus« heißt diese Demo. Sie ist Teil der neuen Normalität in Köln. Zwei Wochen nach Silvester müssen sich Migranten in der Öffentlichkeit für Dinge rechtfertigen, die sie selbst nicht getan haben. 

 

Rund 1000 Menschen, darunter viele Migranten, hatten sich ab
dem frühen Silvesterabend vor dem Dom versammelt. Sie warfen Böller und schossen Raketen in die Menge, die Polizei musste den Platz später räumen. Während der gesamten Nacht kam es zu sexualisierter Gewalt gegen Frauen. Über 800 Anzeigen, davon gut die Hälfte wegen sexueller Belästigung, und zwei mutmaßliche Vergewaltigungen verzeichnete die Staatsan-waltschaft Köln Mitte Januar. Zu Redaktionsschluss waren 21 Verdächtige ermittelt, acht davon sind verhaftet. Sie alle stammen aus Nordafrika. 

 

Der Hauptverantwortliche für die Silvesternacht war schnell gefunden: der damalige Polizeipräsident Wolfgang Albers. Seine Behörde hatte direkt nach Silvester eine Pressemitteilung herausgegeben, in der von einer friedlichen Silvesternacht die Rede war. In den Folgetagen weigerte er sich, den Aufenthaltsstatus der Tatverdächtigen zu beleuchten. Durch interne Polizeiberichte geriet Albers schließlich so sehr unter Druck, dass er am 8. Januar von NRW-Innenminister Ralf Jäger in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Gestritten wird aber weiter: vor allem über die Frage, wer wann und von wem über die Ereignisse an Silvester informiert wurde. Auf Landesebene wollen CDU und FDP nach einer Sondersitzung des Landtags einen Untersuchungsausschuss einrichten, der die Rolle von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) und Innenminister Jäger (SPD) beleuchten soll. In Köln steht Oberbürgermeisterin Henriette Reker in der Kritik. Sie hatte behauptet, dass sie erst aus der Presse erfahren habe, dass auch Flüchtlinge in der Silvesternacht am Hauptbahnhof waren. Laut NRW-Innenministerium ist ihr dies jedoch schon auf einer Besprechung am 5. Januar mitgeteilt worden. Reker bezeichnet die Vorwürfe als »Ablenkungsmanöver«.

 

Die Karnevalstage werden die erste Probe für Reker und den neuen Polizeipräsidenten Jürgen Mathies, der zuvor Direktor des Landesamtes für Zentrale Polizeiliche Dienste in Duisburg war. Das Maßnahmenpaket von Stadt und Polizei sieht eine verstärkte Polizeipräsenz vor, die Rede ist von Urlaubsperre und 800 zusätzlichen Polizisten. Zusätzlich will die Polizei mit Videokameras an Teleskopwagen größere Menschenansammlungen überwachen.

 

Sexuelle Gewalt gab es an Karneval jedoch auch schon vor Silvester 2015. In den vergangenen drei Jahren wurden der Polizei pro Session zwischen 25 und 30 sexuelle Übergriffe gemeldet, das sind doppelt so viele wie im Jahresdurchschnitt. Die Dunkelziffer ist deutlich höher. 63 Prozent von ihnen wurden von deutschen Tätern begangen. Nach der Silvesternacht stehen jedoch Männer aus Nord-afrika unter Verdacht, patriarcha-lische Rollenbilder nach Deutschland »importiert« zu haben. Die Bundespolitik will darauf mit schnelleren Abschiebungen reagieren.

 

»Aber was hat die Asylgesetzverschärfung mit dem Thema sexuelle Gewalt an Frauen zu tun?«, fragt Denise Klein. Klein arbeitet seit sechs Jahren als Diplompädagogin bei Agisra, der Kölner Beratungsstelle für Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen. Die Debatte hält sie für »vorgeschoben«: »Das Thema wird instrumentalisiert.« Tatsächlich wird die öffentliche Diskussion von Anfang an einseitig geführt: Im Mittelpunkt stehen die Täter, deren Herkunft und Sozialisation, und nicht die Betroffenen, und das, was ihnen widerfahren ist. In der Berichterstattung dienen die Schilderungen der Frauen größtenteils zur Emotionalisierung — so werden sie erneut instrumentalisiert.

 

Für Mirja Fehm ist diese Haltung nicht neu. Die 43-Jährige ist Mitarbeiterin bei »Frauen helfen Frauen«, dem Trägerverein der zwei autonomen Frauenhäuser in Köln. »Es gab bislang keinen ernsthaften politischen Willen, Gewalt gegen Frauen wirklich zu bekämpfen.« Seit zehn Jahren fordert der Verein ein drittes Frauenhaus in Köln. Mehr als 800 Frauen können jährlich wegen Überfüllung nicht aufgenommen werden. »Das kann Leben kosten! Zu jedem Zeitpunkt werden Frauen ermordet, auch in Köln. Und es gibt keinen Aufschrei der Politik«, sagt Mirja Fehm. Derzeit haben die beiden Kölner Häuser 50 Schutzplätze für Frauen samt Kindern zur Verfügung, laut einer EU-Empfehlung müssten es proportional zur Einwohnerinnenzahl 133 Plätze sein. Von der Kölner Politik wurde ein drittes Frauenhaus jedoch immer wieder abgelehnt. Stattdessen hat sich die Politik Mitte 2015 für den längst überfälligen Neubau des maroden ersten Frauenhauses ausgesprochen. Demnach soll der Neubau bloß zwölf Schutzplätze — sechs von ihnen für Kinder — mehr bieten, die Aufstockung soll laut Stadtverwaltung »personell kostenneutral« verlaufen. Die Fraueninitiative lehnt eine solche Qualitätsminderung ab. »Dann können wir die Betreuung nicht mehr garantieren. Wenn es wirklich darum ginge, sexuelle Gewalt zu verhindern, würde man anders entscheiden«, stellt Fehm fest.  

 

Dabei belegen Untersuchungen, wie nötig Aufklärung, Prävention und entsprechende Hilfsangebote wären: Laut einer EU-weiten Studie, die die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2014 veröffentlichte, sind mehr als die Hälfte aller Frauen in Deutschland mindestens einmal sexuell belästigt worden, ein Drittel hat sexualisierte oder psychische Gewalt erlebt. Die meisten betroffenen Frauen kennen die Täter: Partner, Ex-Partner, Väter, Onkel, Freunde. 

 

Auch Flüchtlingsheime oder besser noch Wohngruppen, die nur Frauen vorbehalten sind, fehlen in Köln. Bereits Anfang 2014 hatte die Stadt Köln zugesagt, in der Flüchtlingsunterkunft am Severinswall ausschließlich Frauen unterzubringen. Derzeit sind Frauen dort zwar in der Überzahl — aber neben Männern. »Wir können nicht verstehen, warum das Vorhaben, ein Wohnheim nur für alleinreisende Frauen bereitzustellen, immer noch nicht umgesetzt wurde. Fehlt es am politischen Willen?«, fragt Denise Klein von Agisra. Immer wieder erfahren Initiativen von sexuellen Übergriffen in Flüchtlingsunterkünften. Laut Claus-Ulrich Prölß, Geschäftsführer des Kölner Flüchtlingsrats, begünstigen bauliche Mängel wie kaputte Türen, ein unzumutbarer Betreuungsschlüssel und ein fehlendes Belegungsmanagement seitens der Stadt, das die besonders Schutzbedürftigen ausfindig macht und sie entsprechend ihren Bedürfnissen unterbringt, solche Taten. Seit mehr als einem Jahr fordert der Flüchtlingsrat unabhängige Ombudspersonen und Sozialarbeiterinnen, die in den Einrichtungen als Ansprechpartner fungieren. »Wem sollen die traumatisierten Frauen denn von ihren Erlebnissen berichten? Dem Mann von der Adlerwache?«, fragt Prölß. In den Landeseinrichtungen wurde ein solches Beschwerdemanagement vergangenes Jahr eingeführt. »In Köln hielt man das nicht für nötig«, so Prölß.

 

Die aufgeheizte Debatte in Politik und Medien über patriarchalische Frauenbilder, die nach Deutschland importiert werden, ist Mirja Fehm zu undifferenziert: »Natürlich muss jetzt eine Auseinandersetzung über patriarchalische Frauenrollen folgen — aber unabhängig von Religion und Herkunft.« In den beiden Frauenhäusern sind laut Fehm zahlreiche Nationalitäten vertreten. »Wir haben nicht überproportional viele Frauen aus Nordafrika«. Die Polizeistatistik legt eine ähnliche Folgerung nahe. »Männer aus Nordafrika sind in den letzten Jahren bei Sexualdelikten nicht signifikant in Erscheinung getreten«, sagt Norbert Wagner von der Kriminalpolizei Köln. 

 

Martin Zillinger, der an der Universität Köln über Migration aus Nordafrika forscht, sieht die sexualisierte Gewalt der Silvesternacht auch im Kontext einer gescheiterten Migrationsgeschichte. Es dürfe nicht unterschätzt werden, welche Verunsicherung Migration für alle Beteiligten bedeute: »Die jungen Männer aus Nordafrika kommen mit hohen Erwartungen nach Europa, die sich selten einlösen lassen.« Vor dem Hauptbahnhof sei es den unterschiedlichen Gruppen darum gegangen, einen öffentlichen Raum für sich zu beanspruchen, was den jungen Männern aus Nordafrika und der Levante sonst nicht so einfach möglich sei: »Da kommt vieles zusammen: das erste Silvester in Deutschland, der Alkohol, kriminelle Gruppen, und das Bedürfnis, sich gegenseitig in seiner Männlichkeit zu beweisen.« Diese Übergriffe seien aber in Nordafrika ebenso wenig legitim und akzeptiert wie in Deutschland, fügt Zillinger hinzu. »Es ist richtig, Grenzen zu setzen. Aber wir müssen diesen jungen Männern auch die Chance geben, hier so leben zu können, dass es ihnen und der Aufnahmegesellschaft gut tut.« Ein Einwanderungsgesetz sei dazu ein wichtiger Schritt. 

 

Seit zwei Jahren hat die Kölner Polizei junge Männer aus Nordafrika im Visier, weil diese überproportional häufig als Taschendiebe in Erscheinung treten. Zwar unterstützt die Polizei ein Sozialprojekt der Arbeiterwohlfahrt (AWO), das sich um junge Flüchtlinge aus Nordafrika kümmert, der Schwerpunkt liegt jedoch auf der typischen Polizeiarbeit. »Der Kon-trolldruck ist gestiegen«, erklärt Peter Römers, Leiter der Polizeiin-spektion 1. Er befürchtet nicht, dass damit auch Unschuldige ins Visier der Polizei geraten. »Sie müssen der Polizei den ›Schutzmannsblick‹ zugestehen. Man erkennt, wenn jemand etwas ausbaldowert.« Mitte Januar führte die Polizei in Kalk und Humboldt-Gremberg mehrere Razzien in Gaststätten und Wett-büros durch und kontrollierte jeweils mehr als hundert Menschen. Einige von ihnen wurden in Gewahrsam genommen — weil sie sich nicht ausweisen konnten. 

 

»Für people of color ist der Hauptbahnhof gerade kein angenehmer Ort«, sagt Martin Schmitz (Name geändert) von »BuergerwehrWatchCGN«. Dies liege auch an den erhöhten Polizeikontrollen nach Silvester. Hinzu käme die Bedrohung durch sogenannte Bürgerwehren. »Die Polizei erkennt die Bürgerwehren teilweise nicht sofort, wenn die in Zivil unterwegs sind«, erläutert Schmitz. Zum ersten Mal sind diese Bürgerwehren am 10. Januar aufgetreten, dem Tag nach der gewalttätigen Pegida-Demo am Hauptbahnhof. Mitglieder der Hooligan- und Türsteher-Szene, teilweise wegen rechtsextremer Verbrechen vorbestraft, hatten in der Kölner Innenstadt Übergriffe gegen Touristen und Migranten verübt. Dabei wurden ein Mensch aus Indien, zwei aus Pakistan und ein Mensch aus Syrien verletzt. Die Täter waren allesamt deutscher Herkunft.