Ein entschiedener Menschenrechtler: Kurt Holl besetzt das EL-DE-Haus Ende der 80er Jahre. Foto: Manfred Wegener

»Charakterlich?...« ein Ehrenbürger

Ein Nachruf auf Kurt Holl (1938–2015)

Wenn ein Geschichts- und Französischlehrer seiner Klasse den Stoff dadurch näher bringt, dass er eine Modelleisenbahn aufbaut und die Züge durch Sprengladungen stoppt, um zu zeigen, wie die französische Résistance den Widerstand gegen die deutschen Besatzer und den Abtransport von Juden in die KZs organisiert hat, dann ist er »charakterlich ungeeignet«. So jedenfalls bescheinigte ihm das die Schulaufsicht in den 70er Jahren, bevor sie ihn mit einem Berufsverbot belegte.

 

Wenn derselbe Mann knapp vierzig Jahre später als alternativer Kölner Ehrenbürger  ausgezeichnet wird, dann ist das nicht unbedingt ein Widerspruch. Es haben sich einfach die Zeiten zum Positiven geändert. Und daran hat der ehemals Gescholtene und dann Ausgezeichnete seinen nicht unerheblichen Anteil.

 

Wenn der Kölner Zeitungsmonopolist Mitte der 80er Jahre Romakinder vorrangig als Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Szene setzte, weil einige von ihnen mit Diebstahl ihren Lebensunterhalt verdienten und wenn heute dasselbe Zeitungshaus eine Bresche für die Rechte dieser noch immer unterdrückten und von Abschiebungen bedrohten Minderheit schlägt, dann geht Sinneswandel erheblich auf das Wirken eben dieses Mannes zurück.

 

Dieser Mann ist Kurt Holl, der am 10. Dezember 2015, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, im Alter von 77 Jahren gestorben ist.

 

Kurt Holl ist Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegskind. Zwei Monate nach seiner Geburt zettelten die Nazis die Reichspogromnacht an, ein knappes Jahr später überfiel Hitlerdeutschland Polen. Als die Bomben auch auf sein Elternhaus in Nördlingen fielen, war er fünf Jahre alt, bei Kriegsende ging sein siebtes Lebensjahr zu Ende.

 

Die Gewalt der Nazis zeigte sich auch in der Kindererziehung. Der von seiner Mutter gemaßregelte Kurt machte sich die Stockschläge mit Träumereien erträglicher. Von seinem geliebten Vater träumte er, der zu den Prügeleien nicht beitragen konnte, weil er »im Felde« war und 1942 endgültig dort blieb. »Von unserem Vater hing seit seinem Heldentod 1942 ein großes Foto wie ein Altarbild in unserem Wohnzimmer. Es war das Titelfoto einer NS-Illustrierten gewesen, die meine Mutter beim Frisör entdeckt hatte. Es zeigte ihn als SS-Mann auf seinem Motorrad, kampfbereit und fröhlich. Gegenüber anderen Kindern konnte ich mit ihm wunderbar angeben. Was SS bedeutete, das sollte ich erst später erfahren.«

 

Als er es erfuhr, war der Schock groß und prägte sein Leben. Die Einheit seines Vaters brachte in der Sowjetunion in knapp eineinhalb Wochen fast 11.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder um. »Diese Todesreiter waren die Wegbereiter der Shoa«, sucht Kurt Holl sein Entsetzen in Worte zu fassen und überschreibt diesen Abschnitt seiner biographischen Notizen mit dem Titel: »Geliebtes Ungeheuer«.

 

Belastet von der Schuld der Väter und von der Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung von eben diesen Vätern — dieser unauflösbare Widerspruch, der kein Traum,  sondern ein Trauma war, prägte die Kinder der Nazigeneration, falls sie sich ihrer Geschichte stellten. Kurt Holl tat das und zog daraus einen für ihn unumstößlichen Schluss. Er wollte Zeit seines Lebens gegen die Entwürdigung von Menschen kämpfen, gegen die Anmaßung staatlicher Institutionen, die unveräußerlichen Rechte von Menschen zu beschränken, zu knebeln oder gar aufzuheben.

 

Das tat er mit Schlitzohrigkeit und Witz, mit einer Entschiedenheit, die rücksichtslos werden konnte gegen Feinde und mitunter auch gegen Freunde, mit imposanter Klugheit und einer kaum erlahmenden Energie und Lebenslust. Als Einzelkämpfer, als Teil einer Bewegung, als Freund und als Helfer, als radikal Ungehorsamer und als Pragmatiker. Ohne Kurt Holl gäbe es in Köln keine so starke Solidarität mit Roma, keine Stolpersteine, die an die Opfer der NS-Vernichtungsmaschine erinnern, kein EL-DE-Haus. Von seinem Engagement für die Befreiungsbewegung in Algerien in den 50er Jahren, vom Aufbau eines Wasserprojekts in Kurdistan, von seiner Lehrertätigkeit im Kölner Knast und von seinen zahlreichen lokalpolitischen Aktivitäten gar nicht zu reden.

 

Kurt Holl war ein entschiedener Menschenrechtler. Sein Tod hinterlässt eine große Lücke und die Aufforderung, sie zu füllen. Viele werden dafür nötig sein.