Heim & Welt

Die Noblesse des Nichtwissens

 

Wissen wird mit Klugheit verwechselt. Wissen zu schaffen, das mag ein Beleg für Klugheit sein; Wissen aber nachzuerzählen, das ist bloß Fleißarbeit. Es gibt aber neben der Angeberei des Wissens auch eine Koketterie des Nichtwissens: »Ich weiß, dass ich nichts weiß«, soll Sokrates gesagt haben. Wie kann jemand wissen, gar nichts zu wissen? Aber eigentlich meint dieser Satz auch: Leute, ihr habt alle keine Ahnung! 

 

Oft wird also nicht nur das Wissen als Klugheit, sondern auch das Nichtwissen als Wissen angesehen. Es ist kompliziert, aber jeder, der einen Fernseher einschaltet, weil irgendwo etwas explodiert ist, kann sich davon überzeugen. Endlos viele Sendeminuten verstreichen, in denen »Experten« und »unser Reporter vor Ort« mitteilen, dass sie derzeit noch nichts wüssten. Erfahrungsgemäß ist die Nachrichtenlage nach 24 Stunden in einem halbwegs vorzeigbaren Zustand. Erst dann hat sich die Informationsschlacke als Bodensatz aus bloßer Mutmaßung und Meinung gesetzt und obenauf schwimmen ein paar Fakten. 

 

Früher fragte man: Momentchen, wie hieß noch mal der Keyboarder von »Champagne Boulevard«? Ja, wie hieß der noch? Irgendwas mit K? Oder N? Kufenwand, so hieß er nicht. Auch nicht Nörsenfeld? Prompt packt ein jeder in seine Hose. Hoppla! Ja, aber dort steckt doch das kleine Kistchen mit dem Internet drin, und das erzählt uns: Kasimir »Funky Flutsche« Niebenholz (*1966 in Pirmasens-Niedersimten), Keyboarder und Bäckermeister...« Ach, ja! Mir lag’s auf der Zunge! Schön, wenn der Schmerz nachlässt! Und so weiter. Und keiner merkt, dass Niedersimten 1966 noch gar nicht zu Pirmasens gehörte. So gelangt durch ein Zuviel an Information das Unwissen in das Wissen hinein. Es ist so wie im Satz von bei Sokrates. Das Nichtwissen wird uns als Wissen angedreht. 

 

Bei Sokrates muss ich immer an Gesine Stabroth denken. Wäre dies ein Kompliment, welches einer Dame ins Ohr zu flüstern sich ziemte? Jedenfalls erscheint mir Gesine Stabroth sehr sokratisch. Und zwar, weil sie immer und über alle Maßen Gebrauch macht von der Phrase »Ich weiß nicht, aber...« Während Sokrates behauptet zu wissen, nichts zu wissen (und damit nur ausgestellt, was für ein Schlauberger er ist), behauptet Gesine Stabroth umgekehrt, etwas nicht zu wissen, um dann entgegen dieser Aussage ihr Wissen umso vehementer zu behaupten. Denn auf die formelhafte erkenntnistheoretische Bescheidenheit der Einleitung, folgt Ungeheuerliches: »Ich weiß nicht, aber« — und jetzt Achtung, alle Modemuffel in Deckung! — »man weiß doch, dass ein Anorak mit vielen Taschen echt absolut opamäßig ist. Tausch den um!« Womit auch die philosophische Frage nach dem Wesen eines vieltaschigen Anoraks per Autoritätsbeweis geklärt wäre: Sein Wesen ist die Opahaftigkeit. 

 

Ich sagte: Das wusste ich nicht. Da lachten Gesine Stabroth und ihre beste Freundin Tine nur böse und rollten mit den Augen. Ist es ein Zeichen unserer Epoche, dass das Bekenntnis zum Unwissen lediglich als Koketterie erträglich ist?

 

Wir sind Zeitgenossen eines trostlosen Informationszeitalters, in dem jegliche Antwort besser ist als keine. So produzieren wir das Halbwissen der Trottel und der Feiglinge, die das Unwissen nicht ertragen können. »Ich weiß das nicht« — spürt noch jemand die Noblesse dieser Worte? Sie reicht fast an die des Wissens heran.

 


Und so vornehm wollte ich sein, als ich antwortete, ich wüsste es nicht, obwohl es gelogen war, und allen sagte, die danach fragten, was Oma Porz denn nur habe, dass sie mitten in der Nacht mit einem Notarztwagen ins Krankenhaus gefahren werden müsse — anstatt ihr gute Besserung ausrichten zu lassen. Wir sollten überhaupt uns allen gute Besserung wünschen anstatt mehr Wissen.