Volles Bewusstsein, leerer Magen

Es ist Fastenzeit, aber wen kümmert’s? Landläufig gilt das Fasten als absonderliche Enthaltsamkeit. Die hat in einer libertären Welt, in der alles verfügbar ist und sein soll, keinen Platz. Und doch: In Form einer Abstinenz erscheint sie uns akzeptabel — aus ethischen oder (gern selbstdiagnostizierten) medizinischen Gründen. Die Bistros und Cafés der Metropolen bezeugen es: Wir meiden Laktose und Gluten, wir ernähren uns vegetarisch oder vegan, wir kaufen Light-Produkte, essen gemäß der neuesten Fitness-Programme oder so wie angeblich die Steinzeitmenschen. Die Reglementierung, die wir uns bei der Ernährung selbst auferlegen, ist also gar nicht gering. Unsere Tabus sind bloß andere und Moden unterworfen.

 

Das Fasten ist ursprünglich der kultivierte Gegenentwurf zur Völlerei. Papst Gregor rubrizierte sie im 6. Jahrhundert als gula unter die Todsünden. Der Adressat dieser Drohung waren dabei wohl eher die Kirchenmänner selbst, das Volk darbte ohnehin, bekam solche Sünden nie zu schmecken. Unsere heutige gula ist nicht mehr die Völlerei, jedenfalls nicht die des Essens. Die haben uns die Lifestyle- und Fitness-Ideologen besser ausgetrieben als die Kleriker. Unsere Völlerei heißt Maßlosigkeit. Und diese Maßlosigkeit stellt übrigens auch ein kulinarisches Problem dar. Sie zeigt sich in der konzeptuellen Ratlosigkeit in Zeiten totaler Verfügbarkeit: zu viele Zutaten, zu viele Gimmicks wie Schäumchen, dazu der enthemmte Einsatz von Aromen und Gewürzen, kurzum: kulinarischer Schwulst. Enthaltsamkeit würde hier den Genuss nicht schmälern, sondern steigern.

 

Insofern birgt das Fasten sogar einen kulinarischen Aspekt: Es ist eine Propädeutik der Geschmacksschulung. Der Verzicht vermag die Aufmerksamkeit zu steigern. Nicht in der Art wie unterernährte Asketen auf einmal die Engel tirilieren hören, sondern bei vollem Bewusstsein, wenn auch bei leerem Magen — mit der Aussicht auf kommende Genüsse und mit der Erkenntnis, dass schwelgerischste Gourmandisen ohne ihr Gegenteil, den Verzicht, kaum zur Geltung gelangen.