Fragestellen als hohe Kunst: Swetlana Alexijewitsch | Foto: Margarita Kabakova

Swetlana Alexijewitsch

Die Nobelpreisträgerin ist eine Meisterin der literarischen Camouflage

Ist es okay, dass sie den Literaturnobelpreis erhielt? Jemand, der nur Leute interviewt und das dokumentiert? Ist das der Einbruch des Journalismus in die altehrwürdigen Säle der Schwedischen Akademie? Als vor einem halben Jahr die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam, meldeten sich rasch die Bedenkenträger.

 

Es stimmt, sie ist studierte Journalistin, hat jahrelang als Lokalreporterin in Minsk gearbeitet. Ihre Schreibhaltung ist dokumentarisch, es ist aber auch eine geniale Camouflage: Sie ist eine Schriftstellerin, die Journalistin spielt — und eine Journalistin, die sich die Freiheit einer Schriftstellerin nimmt. Das zeichnet schon ihre früheste eigenständige Arbeit aus: »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht«,  Interviews mit Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs in der Roten Armee dienten, wurde 1983 umgehend verboten, zwei Jahre später dann doch veröffentlicht. Den einen war es eine unerträgliche Fiktionalisierung des Großen Vaterländischen Krieges, die anderen waren schockiert über den harten Realismus, der die Geschichten der alten Soldatinnen so beklemmend machte: Letztlich waren sich die Zensoren uneinig, Alexijewitsch nutzte die Lücke.

 

Ihre Interviews sind keine reinen Wiedergaben: Sie sind verdichtet, montiert aus mehreren Gesprächen, dann wieder aus flüchtigen Momentaufnahmen. Alexijewitsch verfremdet — in Schlaglichtern leuchtet sie die Realität grell aus und macht sie so begreifbar. Krass, schroff und illusionslos gelingt ihr das in ihrer letzten Publikation »Secondhand-Zeit« (Hanser Berlin 2013). Es ist eine Bilanz der 90er Jahre in den ehemaligen Länder des Sowjetreichs — ökonomischer Zusammenbruch und totale geistige Verstörung — und ein erster Geschäftsbericht der Putin-Ära: das Aufkommen eines extrem nationalistischen Neoliberalismus.

 

In aktuellen Statements versteigt sie sich bisweilen zu halsbrecherischen Aussagen über die russische Volksseele (»Man muss vom kollektiven Putin reden«), die Qualität ihrer Texte ist davon unberührt. »Eine Chronik der Zukunft« hat sie ihr Buch über Tschernobyl genannt, vielleicht ihr bestes. Es lohnt sich, sich ihrer Härte und Illusionslosigkeit auszusetzen.

 

Lesung: Salon Spezial mit Svetlana Alexijewitsch, Guy Helminger und Navid Kermani, Sonntag, 6. März, 20 Uhr, Schauspiel Köln im Depot 1