Die Flucht über das Mittelmeer: Berlinale-Gewinner »Fuocammare«

Bärendienst fürs Kino

Kunstgewerbe statt Kunst, Themen statt Ästhetik: Der Wettbewerb der 66. Berlinale

Große Filmfestivals erfüllen viele Funktionen: Sie sind Event, Marktplatz, Glamourgeneratoren, aber vor allem natürlich Leistungsschau der Kunstform Kino. Hier werden die Ergebnisse ästhetischer Grundlagenforschung präsentiert, die Zeugnis ablegen von den Weiten menschlicher Imagination und in verdünnter Form vielleicht auch Eingang finden in die audiovisuelle Konfektionsware, die den Kinoalltag bestimmt. Verwandt sind Filmfestivals in dieser Hinsicht mit den großen Modenschauen - und hier weniger mit Prêt-à-porter als mit der Haute Couture.

 

Im besten Fall feiern Festivals also die Möglichkeiten des Mediums und weisen nicht auf dessen Beschränkungen hin. Daher ist Alex Gibneys »Zero Days« ein ziemlich ungeeigneter Film für den Wettbewerb eines A-Festivals wie die Berlinale. Nicht, weil er ein Dokumentarfilm ist — es werden viel zu selten nichtfiktionale Werke zu solchen Wettbewerben zugelassen —, sondern weil er die Grenzen des Kinos vor Augen führt.

 

Gibney hat sich eines brisanten Themas angenommen: des Stuxnet-Computervirus’, der 2010 schwere Schäden an der iranischen Atomanlage in Natanz anrichtete. Bis heute hat sich niemand offiziell zu diesem Angriff bekannt, aber es wurde schnell vermutet, dass es sich bei dem Virus um eine Entwicklung amerikanischer und israelischer Geheimdienste handelt. In »Zero Days« wird diese Vermutung von Insidern aus der NSA bestätigt, die natürlich nur bereit waren, unter strikter Wahrung ihrer Anonymität zu reden. Ihre Aussagen werden im Film von einer Schauspielerin vorgetragen, deren Gesicht unnötigerweise bis kurz vor Schluss auch noch durch eine Art digitaler Vektorgrafikmaske unkenntlich gemacht wird. Diese visuelle Spielerei zeigt schon, dass Gibney ein Problem hat: Ihm fehlen aussagekräftige Bilder — und er findet auch keinen kreativen Weg das auszugleichen. Ein Computervirus ist unsichtbar, man kann lediglich den Code zeigen, aus dem er besteht — Text abzufilmen ergibt aber kein Kinobild. Die tatsächlichen physischen Folgen des Angriffs aus dem virtuellen Raum, kann Gibney nicht abbilden, weil er weder in Natanz noch im Iran überhaupt filmen durfte. Was bleibt ihm? Ein wenig Archivmaterial, viele 08/15-Computergrafiken und Interviews, wobei viele seiner Gesprächspartner auch nur sagen, dass sie nichts sagen dürfen.

 

Um nicht falsch verstanden zu werden: »Zero Days« ist spannend und hat eine wichtige Botschaft (mehr Transparenz!), aber ein Kinofilm ist er nicht, eher formatierte TV-Ware. Dass er für den Wettbewerb der Berlinale ausgewählt wurde, bestätigt einmal mehr, dass dem langjährigen Leiter des Festivals Dieter Kosslick die filmische Form wenig zählt, wenn das Thema und der Publicity-Faktor spektakulär genug sind. Sicher, mit »Zero Days« hat das Festival den Sprung heraus aus den Feuilletons auf die Politikseiten der Zeitungen geschafft und in die Fernsehnachrichten, aber dem Kino, dem Kosslick doch eigentlich verpflichtet sein sollte, hat er mit diesem Film einen Bärendienst erwiesen.

 

In abgeschwächter Form gilt das auch für den einzigen deutschen Beitrag im diesjährigen Wettbewerb: Anne Zohra Berracheds »24 Wochen«, ein »Kleines Fernsehspiel« des ZDF mit groß angekündigter Tabubruch-Thematik. Julia Jentsch spielt eine erfolgreiche Kabarettistin, die mit einem wahrscheinlich behinderten Kind schwanger ist. Erst entscheidet sie mit ihrem Mann und Manager, gespielt von Bjarne Mädel, dass sie das Kind bekommen will, doch dann gewinnen ihre Zweifel immer mehr die Oberhand.

 

Gefilmt ist das ganze im typisch deutschen mittleren Fernsehrealismus, angedickt mit impressionistischen Kameraspielereien und völlig belangloser Musik. Stark wird der Film erst in den letzten 20 Minuten, in denen genau gezeigt wird, wie eine Abtreibung in der 24. Woche vor sich geht. Die echten Fachärzte, die hier zusammen mit Jentsch und Mädel agieren, geben dem ganzen eine erschütternd nüchtern naturalistische Note, die zeigt, was möglich gewesen wäre, hätte man die üblichen Bahnen deutschen fernsehgeförderten Kinoalltags mutig verlassen. Typisch ist dann wieder die am Ende für alle zum Mitschreiben ausformulierte vorschriftsmäßig ambivalente Botschaft, die in etwa so tabubrecherisch ist wie ein Kirchenaustritt.Die im Vorfeld der Berlinale schon angestoßene Diskussion um den beklagenswerten Zustand des deutschen Films wird »24 Wochen« jedenfalls nicht entschärfen.

 

Ein weiteres bezeichnendes Negativbeispiel aus dem diesjährigen Wettbewerbsprogramm war »Genius«, ein Biopic über die Beziehung des Schriftstellers Thomas Wolfe zu seinem Lektor Max Perkins. Der Film ist typisches angloamerikanisches »middle brow«- Kino mit renommierten Schauspielern, gediegener Sepiaästhetik und bildungsbürgerliche Thematik, das alle beliebten Klischees über Künstlergenies bis zur Ermüdung durchdekliniert: von der fehlenden Sexualmoral bis zum Tanz am Rande des Wahnsinns. Der weitaus bessere Film über einen Literaten — genauer: eine Dichterin — lief in der undankbaren »Special«-Sektion jenseits des Wettbewerbs.

 

Terence Davies »A Quiet Passion« ist eine ungemein geistreiche und ebenso komische wie rührende Auseinandersetzung mit Leben und Werk der Amerikanerin Emily Dickinson, die Zeit ihres Lebens nur sieben ihrer insgesamt 1775 Gedichte veröffentlichen konnte. Die strenge Form des Films reflektiert dabei die geistig-moralische Enge des gottesfürchtigen Bürgertums der Neuenglandstaaten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Gebrochen wird sie durch die rasanten Dialoge, die von Oscar Wilde stammen könnten und den Geist der Screwball Comedy in die gestelzte Sprache des vorvorigen Jahrhundert übertragen. Dass »A Quiet Passion« trotz Weltpremiere, prominentem Regisseur und Stars (»Sex and the City«-Schauspielerin Cynthia Nixon und Keith Carradine) nicht im Wettbewerb lief, ist völlig unverständlich. Hier wurde mal wieder Arthouse (»Genius«) der Kunst (»A Quiet Passion«) vorgezogen.

 

Die Jury um Meryl Streep hat gut daran getan, die oben genannten Wettbewerbsfilme zu ignorieren. Den Goldenen Bären bekam erwartungsgemäß der zweite Dokumentarfilm im Wettbewerb: Gianfranco Rosis »Fuocammare«, der im Gegensatz zu »Zero Days« wirklich ins Kino gehört. Der Italiener hat fast ein Jahr lang auf Lampedusa gedreht, jenem Eiland südlich von Sizilien, das in den letzten Jahren Zwischenstation für hunderttausende Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa war. Rosi ist ein brillanter Regisseur mit großartiger Beobachtungsgabe, aber »Fuocammare« ist ein zwiespältiger Film geworden, eher ein Abgesang auf das traditionelle Italien, als ein Film, der das Verständnis der Flüchtlingskrise befördert. Während er das Leben der Einheimischen auf der Insel mit viel Einfühlungsvermögen schildert, bleiben die Flüchtlinge eine anonyme Masse, die oftmals gar bedrohlich wirkt. Demgegenüber stehen die erschütternden Bilder aus dem leichengepflasterten Bauch eines vor der Insel aufgebrachten Flüchtlingsfrachters, die gegen Ende recht unvermittelt in Rosis Film ein Zeichen setzen.

 
Es lohnt sich, über Form und Inhalt von »Fuocammare« zu streiten, das hebt ihn über den Durchschnitt der Wettbewerbsfilme der diesjährigen Berlinale. Ob er allerdings überhaupt in so prominent eingeladen worden wäre, wenn Rosi mit seinem letzten Film »Das andere Rom« nicht 2013 in Venedig den Goldenen Löwen gewonnen hätte, ist zumindest fraglich. Ähnliches gilt für Lav Diaz’ achtstündiges philippinisches Revolutionsepos »Hele Sa Hiwagang Hapis«, das verdient mit dem Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet, ausgezeichnet wurde. Diaz hatte mit seinem vorigen Spielfilm »Mula sa kung ano ang noon« den Goldenen Leoparden in Locarno gewonnen. Eigene Zeichen hat diese 66. Berlinale also nicht zu setzen vermocht, man kann aber immerhin hoffen, dass diese beiden Auszeichnungen anspornen, in Zukunft mehr auf solche filmische Haute Couture zu setzen.