»Essen darf nicht lustfrei sein«

Der Dokumentarfilmer Valentin Thurn (»Taste the Waste«) steht für nachhaltige Landwirtschaft, faire Produk­tionsbedingungen und den bewussten Um­­gang mit Lebens­mitteln. Nun hat sich auf seine ­Initiative hin der ­Kölner Ernährungsrat ge­gründet, der erste in Deutschland. Ein Gespräch über Schul­essen, Super­märkte und Obst, das auf die Straße rollt

Herr Thurn, der Ernährungsrat will besseres Schulessen, mehr Landwirtschaft in der Stadt und Direktvermarktung vom Bauern zum Verbraucher oder Gastronomen. Was verbindet diese Forderungen?

 

Es fehlt an Wertschätzung für Lebensmittel. Wir haben in den Städten die Beziehungen zu ihnen verloren. Man weiß nicht, wo und unter welchen Mühen Lebens­mittel hergestellt werden. Und es fällt vielen schwer, zwischen guten und schlech­ten Lebensmitteln zu unterscheiden. Die Lebensmittelproduktion — von der Landwirtschaft bis zum Urbanen Gärtnern — wollen wir wieder an den Konsumenten heranführen.

Sich gesund, nachhaltig und bewusst zu ernähren, liegt im Trend. Je­doch bloß in der Mittelschicht.

 

Wir dürfen gutes Essen und verantwortungsvollen Konsum nicht zur Spielwiese der oberen Mittelschicht machen. Wir wollen mehr Projekte in schwachen Vierteln! Wir brauchen Urban Gardening dringender in Chorweiler als in der Südstadt. Man muss da anfangen, wo Menschen leben, die sich schwerer damit tun, selbst zu kochen oder Biolebensmittel zu kaufen. Und es muss Teil der Schul­bildung werden. Das muss aber nicht unbedingt gleich Ernährung als neues Schulfach heißen.

Wieso nicht?

 

Es geht um Praxis! In Holweide gibt es an ei­ner Gesamtschu­le die »Gemüse-Ackerdemie«.Schüler können eine ganze Saison verfolgen: pflanzen, jäten, ernten. Selbst wenn sie das nur einmal machen, hinterlässt das Eindruck. Interessant ist übrigens, dass in sozial schwachen Schichten zum Teil ein hohes Bewusstsein für gute Ernährung be­steht: bei Migranten, die aus landwirtschaftlich geprägten Regionen stammen.

Sie wollen mehr Landwirtschaft in der Stadt. Wo ist noch Platz?

 

Wir wissen, dass Wohnungen gebaut werden müssen und dafür Flächen benötigt werden. Wichtiger als möglichst viele Quadratmeter für Landwirtschaft ist aber mehr Vielfalt und weniger Monokultur. Wir wollen stadtnahe Landwirte unterstützen, diese Vielfalt und Direktvermarktung anzubieten.

Klar, dass Landwirte die Initiative des Ernährungsrates begrüßen. Die wollen neue Märkte in der Stadt erschließen.

 

Natürlich haben sie wirtschaftliche Interessen. Aber wir wollen Vielfalt. Es gibt kaum Landwirte, die 30 Obst- und Gemüsesorten anbauen. Viele, die auf dem Großmarkt verkaufen, sind auf zwei, drei Produkte spezialisiert, weil sie nur über Masse den Preis halten können. Vielfalt geht verloren, das kann niemand wollen. Dabei machte der Preisaufschlag für mehr Vielfalt nur wenige Prozent aus. Dafür wäre unsere Landschaft schöner und artenreicher.

Es gab schon Vorschläge, in Parks auch Äcker anzulegen. Gute Idee?

 

Die »Essbare Stadt« wird in der Millionenstadt Köln anders aussehen als in der Kleinstadt Andernach. Aber es könnte in Parks statt Blumenrabatten auch mal Brokkoli geben. Am Grünen Weg in Ehrenfeld lehnte die Verwaltung jedoch schon einen Vorschlag von Bürgern ab, Obstbäume an die Straße zu pflanzen: weil das Obst nicht geerntet werden und auf die Straßen fallen könnte?...

Nicht unwahrscheinlich, oder?

 

Nein, aber wenn man das Ziel hätte, die Produktion näher an den Bürger heranzubringen, dann könnte das bedeuten, dass man sich als Stadt die Arbeit machte, eventuell überzähliges Obst von der Straße zu räumen. Aber wir müssen auch über etwas anderes nach­denken: Die größten Flächen in der Stadt sind die Dächer. Das ist interessant für neue Viertel wie Parkstadt Süd oder den Deutzer Hafen. Und so wie Parkplätze vorgeschrieben sind, so könnten auch grüne Nutzflächen vorgeschrieben werden. Wir kommen nicht dahin, Köln zu hundert Prozent innerhalb der Stadtgrenzen zu ernähren. Aber wenn hier mehr Lebensmittel erzeugt und Menschen damit bekannt würden, dann würden sie auch anders konsumieren.

Was ist eigentlich so schlimm an Supermärkten?

 

Scharf formuliert: Da, wo das System Supermarkt ankommt, fängt die Verschwendung von Lebensmitteln an. Und die vermeintliche Vielfalt dort sind rund 20.000 Produkte, die überwiegend schon verarbeitet sind. Dieses Convenience Food sorgt vor allem für Unmengen Müll, und es verhindert Esskultur. Auch wenn unser Leben immer hektischer wird, ist es möglich, frisch zu essen. Aber man muss es lernen. Wir verbringen nur 29 Minuten im Durchschnitt mit der Essenszubereitung. Wir sind auf dem Weg zu einer Fastfood-Nation. Aber ich habe viele junge Start-ups erlebt, die selbst reihum im Büro kochen! Meist vegan heute?...

Lässt das Bestreben, korrekt zu essen, den Genuss nebensächlich werden?

 

Ich bin noch nicht mal Vegetarier, habe aber großen Respekt davor, sich tier- und klimafreundlich zu ernähren. Was ich weniger daran mag, sind die teils hochindustriellen Produkte, um Sahne oder Honig zu ersetzen. Ich hingegen muss immer überlegen, wo das Fleisch herkommt (lacht). Aber angstfrei zu essen, täte schon gut, und auch zu akzeptieren, dass man mal sündigt. Es darf nicht lustfrei sein.

Einerseits steigert es das soziale Prestige, fair gehandelte und öko-zer­tifizierte Lebensmittgel zu kaufen. Andererseits sind die Supermärkte voll wie ehedem: Rewe vermeldet Rekordergebnisse. Wie passt das zusammen?

 

Das hat mit unserem Alltag, aber auch mit Bequemlichkeit zu tun. Da freue ich mich einerseits, dass wir in Köln immerhin zwei inhabergeführte Rewe haben, die direkte Beziehungen zu Bauern haben. Andererseits ärgert es mich, dass auch dort Kisten mit »Rewe regional« stehen, deren Herkunftsort »Deutschland« ist. Das sind Mogelpackungen!

Was wäre denn eine Alternative zu Supermärkten?

 

Wir brauchen andere Strukturen. Die Kölner »Food Assembly« ist ein Weg. Man bestellt etwas online und holt es ein paar Tage später in der Nachbarschaft ab, wo man den Bauern persönlich treffen kann. Viele Bauern können nur über diese Direktvermarktung weiter Vielfalt bieten. Im Vergleich zu anderen Ländern tun sich in Deutschland aber Modelle wie »Food Assembly« und »Solidarische Landwirtschaft« noch schwer. Das wollen wir ändern. Wir müssen begreifen, dass unsere Konsumentscheidungen Auswirkungen haben. Wenn man sieht, wie in Südamerika Regenwälder abgeholzt und Kleinbauern vom Land vertrieben werden, um unser Tierfutter anzubauen?...

Mehr Vielfalt, Pflanzen und Ernten in der Schule, Landwirtschaft in der Stadt — wie wollen Sie all das erreichen?

 

Der Ernährungsrat kann nur zusammenführen. Wir wollen ein Gesamtkonzept erarbeiten, wir brauchen ein politisches Ziel, auf das sich die Zivilgesellschaft, der Rat der Stadt Köln und die Wirtschaft verständigen. Bislang sind das Ein­zelaktionen. Wir stecken den Rahmen ab, und die Projekte würden dann von mehreren Organisationen oder Initiativen durchgeführt. Das kann Slow Food sein oder der Gemeinschaftsgarten Neuland. In Berlin, Hamburg, München und Kassel existieren oder entstehen auch Ernährungsräte. Die Idee zündet gerade!

Der Ernährungsrat will einen »mentalen Wandel mit quantifizierbaren Zielen« erreichen. Wie das?

 

Etwa, indem wir den Status quo bei Direktvermarktung, Schulverpflegung und individuellem Essverhalten feststellen und in zehn Jahren erneut prüfen. Wird dann mehr frische Ware gekocht? Nur so stellen wir ja fest, ob das, was wir als Ernährungsrat tun, etwas bewirkt.

In der Stadtverwaltung lagern etliche Masterpläne und Konzepte. Die sind oft im breiten Konsens beschlossen, haben aber auch nur schwammig formulierte Ziele. Sie spielen im politischen Tagesgeschäft keine Rolle. Warum sollte ein Gesamtkonzept des Ernährungsrates einen höheren Stellenwert besitzen?

 

Die Konstruktion des Ernährungsrates beruht auf Erfahrungen aus den USA. Dort waren die Ernährungsräte erfolgreich, bei denen Zivilgesellschaft und Verwaltung zusammenarbeiten. Man muss sich auf einander einlassen: Bürger, Verwaltung und Wirtschaft. Alle drei Gruppen sind gleich stark in unseren Ausschüssen vertreten. Beim Thema Ernährung ist in Köln eine Aufbruchsstimmung zu spüren. OB Henriette Reker und das Umweltamt haben sich für die Idee ausgesprochen. Allen ist klar, dass der Ernährungsrat nicht bloß ein beratendes Gremium sein wird, das von der Verwaltung gesteuert wird.