Kippen, Kaffee, Kleinstadtdandy: Szczepan Twardoch, Foto: Magda Kryjak

Boden ohne Blut

Szcezpan Twardoch gilt als das neue Erzähltalent seiner Heimat Schlesien

Über Schlesien zu erzählen ist verdächtig — zu Recht. Hierzulande
ist Schlesien ein Mythos des Geschichtsrevisionismus, eine überhistorische Metapher für die als Unrecht empfundenen Folgen des deutschen Vernichtungskriegs im Osten. 

 

Vielleicht lässt Szczepan Twardoch deshalb die Erde selbst in seinem Roman als Erzähler auftreten. So werden nicht Personen, sondern der Boden zur Verkörperung des Schlesischen, zur Konstante eines Landstrichs, der von den unterschiedlichsten Herrschern mit den unterschiedlichsten Begründungen beherrscht wurde. Wer nicht in Schlesien ist, kann nicht von Schlesien erzählen. Szczepan Twardoch aber ist in Schlesien, er wohnt östlich von Katowice, in Pilchowice, in einem Haus und allen Berichten zufolge stilisiert er sich dort zum Dandy mit Bekenntnis zur Kleinstadt.

 

Aber zurück zur Erde. Die ist in »Drach« zum Glück nicht die Trägerin einer Essenz namens »schlesisch«, sondern eine Erzählerin. »Ich bin nicht jemand, der versteht, ich sehe nur.  Ich weiß nur, was von Anfang bis zum Ende ist, deshalb brauche ich nicht, zu beantworten, warum etwas ist«, sagt sie, als sie sich darüber wundert, dass der Bergmann Josef Magnor ohne psychische Schäden aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt ist. Magnor ist eine der Figuren, deren Geschichte Twardoch in seinem zweiten Roman von der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bis ins postsozialistische Polen der Gegenwart der Gegenwart erzählt. Dabei wechselt er immer wieder die Epochen, verschränkt Vergangenheit und Gegenwart in einem Kapitel. Um diese Perspektivenwechsel nicht in der Unübersichtlichkeit enden zu lassen, braucht Twardoch einen Erzählkniff, eine allwissende Instanz: die Erde.

 

Angenehm dabei ist, dass diese Erzählinstanz einen larmoyanten, abgeklärten Tonfall besitzt, der selbst den heiklen Situationen einen unterkühlten Humor verleiht. Egal ob Kriegsgrauen an der Westfront oder das sexuelle Erwachen in einem katholisch-verklemmten Bürgerhaushalt: »Drach« ist ein Generationenroman über die Brutalität des 20. Jahrhunderts, aber zum Glück geht ihm jegliches Pathos ab.

 

Lesung: 30.5., Literaturhaus,19.30 Uhr

 

Szczepan Twardoch: »Drach«, Rowohlt, 416 S., 22,95 Euro