Deutschland, ein Remix-Märchen

Bei der Fußball-EM 2016 wird halb Deutschland vor dem Fernseher sitzen. Taktik-Experte und Buchautor Tobias Escher über die Strategie des DFB-Teams und warum Deutschland keine eigene Fußballtradition hat.

Herr Escher, ist Fußball einfach oder kompliziert?

 


Fußball hat einfache Grundregeln und ist intuitiv zu verstehen. Da man sich sehr frei in einem großen Raum bewegen kann, ist es aber gleichzeitig auch komplex. Die Möglichkeiten, wie sich Spieler aufstellen und bewegen, sind groß.

 

 

Ihr Buch »Vom Libero zur Doppelsechs — Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs« erweckt den Eindruck, dass taktisch alles schon mal da war. Das Wiener »Scheiberl-Spiel« aus den 30ern ist ein Vorläufer des modernen Ballbesitzspiels. Sogar die Kritik ist alt — schon in den 20er Jahren wurde das Spielen auf Ballbesitz als langweilige »Rumpasserei« kritisiert. Gibt es überhaupt Neues im Fußball?

 


Fußball ist natürlich auch immer eine Wiederholung von Abläufen, und die haben sich in den vergangenen hundert Jahren nicht groß verändert. Einen Ball passte man damals genau so wie heute. Aber dadurch, dass man immer wieder taktische Elemente neu zusammenfügt – und vor allem durch die andere Athletik — ist Fußball heute ein anderes Spiel als früher.

 

 

Wenn man zum Beispiel das Wiener Scheiberl-Spiel mit dem Ballbesitzspiel vergleicht, was sind da die Unterschiede?

 


Das ist schwer zu vergleichen. Heute kann ich jedes Bayern-Spiel in 50-facher Zeitlupe gucken. Bei Spielen aus den 30er Jahren gibt es nur selten Video--Material. Man muss sich oft auf Beschreibungen verlassen. Vor allem aber ist das Tempo anders. Aus den 30er Jahren gibt es keine Werte, aber noch in den 70ern liefen Spieler im Schnitt sechs bis acht Kilometer. Heute sind das teilweise 13 Kilometer. In den 30ern gab es zudem auch kein Umschaltspiel. Heute ist das Standard.

 

Das Umschaltspiel beschreiben Sie als eine der größten Veränderungen. Wer hat es eingeführt?

 

Das Umschaltspiel, in Deutschland zuerst bekannt als »Rollspiel«, wurde erstmals in den 60ern bei Inter Mailand mit Erfolg eingesetzt. Die Idee war: Wir stehen vor allem defensiv, halten die Null und versuchen nach einem Ballgewinn schnell zu kontern. Der Charakter des Spiels hat sich dadurch merklich geändert.  

 

 

War das auch die Geburtsstunde des Catenaccio, des in Italien geprägten und häufig kritisierten Defensivstils?

 

Ja, das gab es zuvor nicht in der Form. Das kann man auch anhand der Anzahl von Toren bei Weltmeisterschaften sehen: Die war 1954 auf einem Allzeithoch und ist dann nach und nach zurückgegangen. Die WM 1990 ist die mit den wenigsten Toren aller Zeiten. Danach wurde es dank Regeländerungen wie der Drei-Punkte-Regel oder der Rückpassregel wieder torreicher. Aber an das Niveau von 1954 kommen wir nicht mehr ran.

 

 

Die deutsche Nationalmannschaft beschreiben Sie als ein »Remix-Team«. Abgesehen von Franz Beckenbauers offensiver Interpretation des Liberos in den 70ern wurde nie etwas eigenes entwickelt.

 


Man hat immer sehr schnell Ideen aus dem Ausland aufgenommen: in den 30ern das »WM-System« der Engländer, bei dem als Folge einer Regel-änderung ein Mittelfeldspieler in die Abwehr gezogen wurde, in den 70ern die schnellen Positionswechsel der Niederlande. Das moderne Ballbesitzspiel, das Deutschland den WM-Sieg 2014 beschert hat, entstammt dem niederländischen »Voetball total« der 70er und kam mit Johan Cruyff nach Barcelona. Dort ist es unter Pep Guardiola gereift.



Also ist der WM-Erfolg ein Verdienst des scheidenden Bayern-Trainers Guardiola?

 


Wenn man schaut, wie viele Bayern-Spieler damals im Kader waren, hatte das natürlich Einfluss. Genauso wie der WM-Erfolg 1954 sehr viel mit dem 1. FC Kaiserslautern zu tun hatte. Das ist in anderen Nationen nicht anders: 2010 wurde Spanien Weltmeister mit einem Block von Barcelona-Spielern. Wenn die Spieler ein System bereits kennen, macht das die Arbeit leichter.

 

 

Deutschland hatte lange den Ruf, einen kämpferischen, technisch unansehnlichen Fußball zu spielen.

 


Das ist ein Mythos. Deutschland hat weder 1954 noch 1974 »Rumpelfußball« gespielt. Es war immer eine clevere Balance zwischen Offensive und Defensive. Der Mythos hat auch damit zu tun, dass es hierzulande das Bild des Fußballs als proletarischen Sport gab. Das stimmt historisch aber nicht. Fußball war lange in der Hand der Mittelschicht. In der Bundesliga kamen bis in die 70er Jahre die meisten Spieler aus der Mittelschicht.

 

 

Auch der viel zitierte Straßenkicker ist ein Mythos?

 


Schauen Sie sich die Biografie von Günter Netzer an, der kommt aus einem betuchten Haushalt. Der durfte als Kind mitspielen, weil er einen Fußball hatte. Die Geschichte vom Straßenfußball stimmte ebenso wenig wie die vom Kampffußball. Irgendwann in den 80ern und 90ern hat sich der deutsche Fußball diesem Bild jedoch angenähert. 

 

 

Eine Zäsur stellt das Jahr 2000 dar, als die DFB-Elf sang- und klanglos bei der EM ausschied. Wie kam es zu diesem Tiefpunkt?

 


Man hat, auch ein wenig getrübt von den durch eher kämpferische Mittel bedingten Erfolgen bei der WM 1990 und der EM 1996, zehn Jahre lang ignoriert, was anderswo taktisch und in der Jugendausbildung passiert ist. 2000 ist man dann mit einer überalterten Elf und einem fast 40-jährigen Lothar Matthäus als Libero angetreten. So hat damals praktisch niemand mehr gespielt. Nach der EM hat man dann viel unternommen. Die Vereine -sollten mehr in die taktische Ausbildung investieren. -Spätestens als Jürgen Klinsmann und Joachim Löw übernommen haben, gab es auch taktische Neuerungen bei
der Nationalmannschaft.

 

 

Das mündete dann im sogenannten Sommermärchen bei der WM 2006.

 


Auch da muss man allerdings sagen: Wenn man das zehn Jahre später anschaut, fällt auf, dass die Mannschaft gar nicht so gut gespielt hat. Das war ein anderes Tempo als 2014, und technisch viel schwächer. Das Halbfinale gegen Italien ging völlig zurecht verloren, weil Italien spielerisch und technisch besser war.

 

 

Welchen Remix spielt Deutschland bei der kommenden EM?

 


Groß unterscheiden von der WM 2014 wird sich das nicht. Ein bisschen mehr Pep Guardiola steckt drin, insofern, dass Löw in der Vorbereitung viele Formationen gewechselt hat. Das ist ein Einfluss von Guardiola: weg von einer klaren Formation, hin zu mehreren wechselnden Formationen während eines Spieles.

 

 

Was sind die spannendsten EM-Teams?

 


Frankreich ist sehr interessant! Die spielen ein hochspannendes 4-3-3-System. Mein Außenseitertipp ist Wales. Die spielen mit einer sehr unorthodoxen Fünferkette und könnten für eine Überraschung gut sein. Oder die Österreicher, die im 4-4-2 ein sehr klassisches Pressing spielen.

 

 

Und wer wird Europameister?

 


Frankreich ist mein großer Favorit. Dann folgen Deutschland, England — und vielleicht noch Spanien.

 

 

Ist Erfolg im Fußball planbar?

 


Wer eine Strategie verfolgt und langfristig an dieser Strategie festhält, der hat bessere Karten. Taktik ist aber nur ein Bereich. Fußball ist auch immer ein Spiel mit Unwägbarkeiten. Das ist ja auch das Reizvolle. Im Handball oder Basketball gibt es so viele Tore und Punkte, dass es viel schwieriger ist, dass der Schlech-te-re gewinnt. Im Fußball gewinnt nicht immer der Bessere.

 

 

Tobias Escher ist Mitbegründer des Taktik-Blogs spielverlagerung.de und schreibt für Zeit Online oder 11 Freunde. In »Vom Libero zur Doppel-sechs — Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs« (Rowohlt, 304 S., 12,99 Euro) beschreibt Escher die Ent-wicklung von der süddeutschen Flachpassschule der 20er Jahre bis zu Joachim Löws Umschaltspiel bei der WM 2014.