Das große Knabbern

Es ist eine der albernsten Fragen, die Journalisten stellen können: »Wie fühlt sich das an?« Aber in der Gastrosophie sollte man die Antwort auf die Frage häufiger finden. Denn es ist so: Das taktile Empfinden von Zunge und Gaumen wird in der Kochkunst immer noch zu wenig beachtet.

 

Man kann der Molekular­küche vieles vorwerfen, ihr Verdienst bleibt es, die Bedeutung der Textur unserer Speisen aufgezeigt zu haben. Jenseits der Spitzenküche nutzt aber kaum jemand diese Erkenntnisse. Vielmehr werden die takti­len Reize völlig beliebig gesetzt: Deshalb werden Gerichte mit sinnlosen Croûtons verhunzt und allenthalben Suppen gedankenlos zu Babykost püriert. Ganz anders agieren die Lebensmittelindustrie und ihre Schergen aus Psychologie und Chemie: Knusprigkeit oder Schlotzigkeit, kurz: das mouth feel entscheidet neben Reklamekampagnen über den Erfolg eines Produkts. Selbst Sounddesigner werden angeheuert, um möglichst stimulierend Chips knirschen und Bier zischen zu lassen.

 

Beides — Reklame und mouth feel — machen es auch erst möglich, dass Chips und Flips und Glibberkram aus Gelatine in rauen Mengen vertilgt werden, nicht nur von Fußballinteressierten vor dem TV-Gerät.

 

Dass Konzerne, deren Zucker­gesöff und Industriefleisch unseren Geschmack und unsere Gesundheit ruinieren, Werbepartner von Sportveranstaltungen sind — diesen Irrsinn bemerken wir kaum noch.

 

Wir haben gelernt, religiöse und folkloristische Bräuche zu hinterfragen: das Osterlamm, die Weihnachtsgans, den Silvesterkarpfen. Aber das säkulare, kapitalistische Brauchtum feiern wir — und seine abstrusen Nahrungsbefehle führen wir aus: Wir stopfen uns den Mund mit all dem trostlosen Knabbergebäck und glauben, nur so das Hochamt eines Viertelfinales angemessen zelebrieren zu können. Wie die Nahrung im reli­giösen Brauch ist diese Nahrung bloß Fetisch. Salzgebäck und Weingummi ermöglichen Versenkung, allein durch ihren taktilen Reiz. Ansonsten sind sie nur das Trägermaterial für Aromastoffe und Geschmacksverstärker, die uns zu Abhängigen machen: Jeder Griff ins Knabberschälchen ist immer nur der vorletzte. Es ist die Dok­trin des Multitasking, die sich hier in unser Ernährungsver­halten einschleicht, Essen geschieht nebenbei. Wir sind nur noch: Snacker. Nicht Religion, sondern die Knabberbox ist heute das Opium des Volkes.