Globalisierung und ihr Anti

Nach den Attentaten auf das World Trade Centre gerieten Globalisierungskritiker selbst ins Fadenkreuz der Kritik. Auch innerhalb der Bewegung machte sich Verunsicherung breit. Proteste wurden zu Friedensdemonstrationen und in den Netzforen hat

die Diskussion um das eigene Selbstverständnis Konjunktur.

Der Kölner Schriftsteller Enno Stahl dokumentiert die Reaktionen der Globalisierungskritiker und ihrer Gegner auf den 11. September, sowie den Umgang der Bewegung mit den Angriffen auf Afghanistan.

Vor wenigen Monaten war er der plötzliche Schrecken derer, die die Welt nach Gutdünken unter sich aufteilen wollten, der »Seattle-Man«, der »Genua-Verhinderer«, dieses diffuse Konglomerat von Aktivisten verschiedenster Provenienzen. Doch dann die Ikonographie des Ultra-Horrors, ein geradezu biblisches Bild: Welthandelszentrum, so hoch strebte es hinaus und fiel doch in sich zusammen wie ein Doppel-Turm von Babel. Vor diesem Schreckensszenario, so irrwitzig und unausdenklich an individuellem Grauen, wurde der »Seattle-Man«, und das wofür er stehen könnte, ganz klein und unsichtbar, vor allen Dingen aber angreifbar. Die Schuldzuweisungen ließen denn auch nicht lange auf sich warten. Peter Beinart, Herausgeber der amerikanischen Zeitschrift New Republic, stellte in einem Leitartikel ideologische Zusammenhänge zwischen Globalisierungsgegnern und Islamischen Fundamentalisten her. Der französische Figaro machte gar in den Attacken des populären Landwirts und Globalisierungsgegners José Bové, der Genmais sowie eine McDonalds-Filiale zerstörte, denselben Geist aus, dem der Anschlag auf das World Trade Center entstamme. Auch die Bewegung selbst gerierte sich selbstkritisch, ja schuldbewusst: »World Trade Center... anti capitalism ... anti globalisation ... was it one of us?«, so lautete das E-Mail eines Aktivisten im Netzforum urban75.com.

Vom Protestmarsch zur »Peace Rally«

Eine Naive Frage? Es erscheint unvorstellbar, dass jemand aus der Anti-Globalisierungsfront zu solchen Attentaten greifen könnte. Jedoch, sie rührt daher, dass sich zumindest an der Oberfläche mehr Übereinstimmungen mit den Gotteskriegern finden lassen, als der Bewegung lieb sein kann: »The simple fact is that the targets that the terrorists chose represent the ideals that we try and fight – globalisation, americanisation (economic and military influence)«, wie ein Beiträger im nologo.org-Forum der Anti-Globalisierungs-Galionsfigur Naomi Klein pointierte. Um sich gar nicht erst auf diese Zwickmühle einzulassen, nahmen einige Leute sehr viel härtere Positionen ein und versuchten, die Anschläge gar zu rechtfertigen: es gäbe keine unschuldigen Amerikaner, schon als Steuerzahler trügen sie Mitverantwortung an amerikanischen Militäreinsätzen und müssten so auch die Folgen verkraften (was ziemlich genau der Argumentation Osama bin Ladens entspricht).
Solche harschen Kommentare stießen natürlich auf starke Ablehnung, besonders amerikanische Initiativen wie AFL-CIO, International Rivers Network, Rainforest Action Network, Society and Friends of the Earth und Sierra Club bemühten sich, ja keine Widersprüche aufkommen zu lassen, und plädierten dafür, den Kampf wegen der Terroranschläge bis auf Weiteres auszusetzen und auf die Anti-IWF-Kundgebung in Washington am 29. September zu verzichten. Der Sierra Club veröffentlichte gar ein Statement, in dem er ankündigte, jegliche Anti-Bush-Propaganda von den eigenen Webseiten oder aus den Publikationen zu entfernen, um jede kontroverse Position tunlichst zu vermeiden. Dennoch fanden die Aktionen in Washington statt, weil sich nicht alle amerikanischen Aktivisten das Recht auf eine eigene Meinung verbieten lassen wollten. Allerdings mutierte der Protest gegen die Weltbank zur »Peace Rallye«.

»Die Gegenbewegung mundtot machen«

Nach einer Zeit des Durchatmens wurden dann mehr und mehr Stimmen laut, die sich der bedrohlichen Gleichsetzung der internationalen Globalisierungsgegnerschaft mit den islamischen Fundamentalisten argumentativ annahmen. Ein Vertreter der Gruppe Activist San Diego z.B. stellte heraus, dass vielleicht die Angriffspunkte beider Bewegungen sich ähneln mögen, dass aber die Ziele komplett anderer Natur seien. Während die westlichen Globalisierungsgegner eine neue soziale Ordnung anstrebten, die auf Freiheit und der menschlichen Würde des Einzelnen beruhe, basiere das islamisch-fundamentalistische Gesellschaftsideal auf Klassenhierarchien, ethnischen Distinktionen, religiöser Diskriminierung und Unterdrückung. Tatsächlich ist das der Punkt. Auch die Programmatiken von KPD und Ernst Röhms SA wiesen Ähnlichkeiten auf, gleiche Angriffsziele, ja, ähnliche Forderungen, aber die Sicht von Mensch und Gesellschaft war komplett verschieden. Die Globalisierungsgegner und die Islamisten gleichzusetzen, ist deshalb illegitim. Und das wird nicht weniger wahr, auch wenn selbst aus dem theoretischen Inneren der Anti-Globalisierungsbewegung gewisse Parallelen gezogen werden. Antonio Negri, führender Theoretiker der italienischen Autonomia, und Michael Hardt argumentieren in ihrem Buch »Empire«, dass der islamische Fundamentalismus nicht rückwärts blickend und reaktionär sei, sondern ebenso »postmodern« wie die Globalisierungskritiker, da er die Assimilation an die euro-amerikanische Hegemonie seitens des islamischen Modernismus bekämpfe. Natürlich kann man daraus die Rechtmäßigkeit der sozialen Kämpfe ableiten, die dem Islamismus zu Grunde liegen. Das macht es, zugegebenermaßen, vielleicht schwieriger, stets säuberliche Unterscheidungen zu treffen, doch die angestrebten Gesellschaftsmodelle, die sich bereits in der Organisationsstruktur der jeweiligen Aktionsträger niederschlagen, sind diametral entgegengesetzt.
Gewiss gab es gewalttätige Auseinandersetzungen in Seattle, Göteborg und Genua, sie jedoch in Kausalzusammenhang zu einem solch desaströsen Akt wie dem Septemberattentat zu stellen, dahinter stehen wohl weiter reichende Absichten: nämlich diese Gegenbewegung ganz nebenbei mundtot zu machen. Die friedfertigen Kreise der Globalisierungsgegner, die ohnehin in der Mehrzahl sind, sehen sich bestärkt und betonen den Schaden, den gewaltbereite Aktivisten der Bewegung zugefügt hätten – da sie die »corporate media« durch ihre Aktionen munitioniert hätten.

Stigmatisierung oder Einsicht?

Angesichts des »Rachefeldzugs« der Amerikaner und ihrer Verbündeten sind die pazifistischen Stimmen in den Foren immer lauter geworden. Allerdings kreisten und kreisen die Beiträger um das Problem, dass es in diesem Fall keine einfache Lösung gibt, dass man, wenn man die Cowboy-Romantik George W. Bushs nicht bloß umkehren will, kaum vom Krieg der »bösen« Amerikaner gegen die »gute« Dritte Welt sprechen kann. Denn einerseits, da sind sich die meisten E-Mail-Zuschriften einig, hat die US-Außenpolitik, ihre Bombardements im Irak und im Sudan, ihre kurzsichtige Förderung der Taliban oder bin Ladens aus geopolitischen Interessen heraus, dazu geführt, dass die USA ins Fadenkreuz des Terrorismus geraten sind. Ähnlich äußerte sich schon Susan Sontag am Tag nach dem Anschlag und ebenso der unermüdliche Noam Chomsky. Andererseits stehen weder bin Laden noch die Taliban für aufklärerische Ziele, eine freie Gesellschaft, sondern im Gegenteil für politische und gesellschaftliche Unterdrückung. Das heisst, »Gut« und »Böse« sind hier nicht eindeutig zuzuweisen. Diesem Problem entgehen die meisten der Leute, die sich in den Foren zu Wort melden, dadurch, dass sie die afghanische Seite weitgehend ausblenden, dass sie die amerikanischen Verbrechen der letzten Jahrzehnte auflisten und betonen, wie sehr hier mit zweierlei Maß gemessen werde. Der aktuelle Krieg füge sich als ein weiteres repräsentatives Beispiel in diese Reihe und werde keine positiven Resultate zeitigen. Er werde bei den Arabern noch mehr Hass auf die Amerikaner schüren, er werde hunderttausende Tote und Millionen von Flüchtlingen hervorbringen, den Terrorismus aber nicht stoppen. So argumentiert etwa ein Akteur bei indymedia.org und fordert gleichzeitig den Sturz der Taliban. Wie das geschehen soll, wenn nicht mit Gewalt, sagt er allerdings nicht.
Das oft als Zentrale der Bewegung angesehene Netzwerk Attac fordert, dass die Spirale der Gewalt durchbrochen werden muss. Als einziger Weg, den Terrorismus langfristig zu bekämpfen, wird der Ausgleich sozio-ökonomischer Ungleichheiten beschworen, soziale Globalisierung sei auf Dauer der wirksamste Terrorschutz: »Eine Politik, die den Terrorismus wirksam bekämpfen und eindämmen will, muss ihm den sozialen, politischen und ideologischen Nährboden entziehen« (attac-netzwerk.de). Gleichzeitig wendet man sich explizit gegen den unsäglichen Begriff der »zivilisierten« Welt (die soeben Krieg gegen ihren »unzivilisierten« Widerpart begonnen hat). Besorgnis regt sich angesichts der bevorstehenden Beschneidung der Bürgerrechte: Lockerung des Datenschutzes, Verschärfung des Asyl- und Einbürgerungsrechtes (friedenskooperative.de). Insbesondere seit Kriegsbeginn stehen jedoch alle Foren ganz im Zeichen des Antikriegs-Engagements, Demonstrationsaufrufe, -termine und -berichte werden veröffentlicht; gerade in der deutschen Abteilung von indymedia.org haben sich aber auch vereinzelte Befürworter der amerikanischen Intervention zu Wort gemeldet.
Auch wenn die eigentlichen Themen (Politik des Internationalen Währungsfonds, Verschärfung der Maßnahmen zur »inneren Sicherheit«) von der Kriegsthematik momentan überschattet werden, scheint der Elan der Globalisierungskritiker nicht gebrochen, eher denn beflügelt. Die Ereignisse des Septembers haben letztlich – trotz aller Anfechtungen von außen und aller kritischen Selbstrücknahmen – gezeigt, dass die Diagnose der Aktionsgruppen richtig ist, dass nur eine sozial verträgliche Globalisierung die Welt auf Dauer befrieden kann. Inzwischen ist sogar konservativen Politikern wie Klaus Kinkel oder Jürgen Möllemann aufgefallen, dass in diesem Missverhältnis die Krux des gesamten Problems begraben liegt. Der belgische Premierminister Guy Verhofstadt wandte sich gar in einem offenen Brief an die Globalisierungsgegner (abgedruckt im Londoner Guardian), in dem er die Proteste von Seattle, Göteborg und Genua als »einen frischen Wind« im politischen Diskurs bezeichnete und für eine »ethische Globalisierung« warb. Vielleicht ist das der Grund, eine gewisse »Einsicht« seitens des Establishments, wieso die letzten Demonstrationen, sowohl in Washington als auch anlässlich des Kriegsbeginns, weitgehend gewaltlos über die Bühne gingen. Auch die Berichterstattung der Mainstream-Medien blieb beim Thema Friedensdemonstrationen relativ neutral. Ob sich das ändert und Globalisierungskritik in Zukunft als »proto-terroristisch« stigmatisiert und ins Abseits gedrängt wird, muss man sehen; zum Beispiel am 14. Dezember beim EU-Gipfel in Brüssel.

Enno Stahl ist Initiator und Mitglied der »Rheinischen Brigade«, einer Initiative von Autorinnen und Autoren aus dem Rheinland zur politischen Re-Definition der Literatur.