»Ich dachte, Dogma wäre tot«

Das Fest ist vorbei: Thomas Vinterberg über jugendliche Loyalität und die Befreiung vom Dogma

Vor zehn Jahren formulierte Thomas Vinterberg zusammen mit seinem dänischen Landsmann und Freund Lars von Trier zum 100. Geburtstag des Kinos das Dogma-Manifest. Zehn Gebote für Filmemacher, die die Filmindustrie reinigen sollten, »sodass wieder das Innenleben der Figuren den Plot rechtfertigt«. Zu den Geboten gehört, dass Sets und Requisiten verboten sind, nur mit Handkamera gedreht werden darf und Musik nur verwendet werden kann, wenn sie dort läuft, wo die Szene spielt. Vinterberg drehte den ersten Film nach diesen Regeln. »Das Fest« gewann prompt den Großen Preis der Jury in Cannes. Sein nächster Film »It’s All About Love« wurde in den USA mit Stars wie Claire Danes und Joaquin Phoenix gedreht, floppte aber sowohl künstlerisch als auch finanziell. Jetzt hat Vinterberg mit »Dear Wendy« (nach einem Drehbuch von Lars von Trier) wieder zu alter Form zurückgefunden

StadtRevue: Dogma 95 hatte gerade sein zehnjähriges Jubiläum. Wie fühlen Sie sich heute mit diesem Projekt? Mit »Das Fest« haben Sie immerhin den wohl berühmtesten Dogma-Film gedreht.

Thomas Vinterberg: Ich habe sehr gemischte Gefühle. Ich dachte, Dogma wäre tot.

Wann fingen Sie an, das zu denken?

Das passierte schon sehr früh, als bei der Premiere von »Das Fest« 1998 in Cannes die Leute anfingen zu klatschen. Nach dieser Erfahrung hatte ich das Gefühl, dass ich nicht mehr in der Position bin, einen Dogma-Film zu machen. Bei Dogma ging darum, etwas Neues und Riskantes zu tun. Das war es ab diesem Punkt schon nicht mehr. Nach ein paar Jahren wurde es sogar zur Mode. Es wurde seine eigene Konvention, gegen die sich die Leute auflehnten. Da dachte ich, Dogma wäre tot. Aber das war zu vorschnell. Als ich diesen Satz einmal in einer französischen Zeitung gesagt hatte, riefen mich verärgerte Kollegen an, die fragten, was ich da zum Teufel noch mal erzählte. Da realisierte ich, dass Dogma für mich tot war, zu dieser Zeit, aber dass die Welle nun woanders stattfand und jemand anders damit eine fantastische Zeit hatte. Deswegen war meine Einschätzung sehr egoistisch. Darum einigten wir uns auch darauf, Dogma nach zehn Jahren nicht zu beenden. Im Gegenteil, wir setzten das Dogma-Zertifikat ins Internet, jeder kann es nun benutzen. Ich weiß nicht, was passieren wird, und ich will es auch nicht mehr kontrollieren. Vielleicht werde ich selbst irgendwann wieder einen Dogma-Film machen. Ich hätte Lust darauf.

Das wäre eine ziemliche Herausforderung...

Lars macht gerade einen. Bei mir wird es noch etwas dauern, die Zeit ist noch nicht gekommen. »Das Fest« überschattet immer noch alles andere. Davon muss ich mich noch mehr befreien.

Dann sollten wir über Ihren neuen Film reden: Was sind das für Jugendliche, die sich in »Dear Wendy« zusammenschließen?

Sie werden als Loser gesehen. Ich glaube, sie haben ein ganz bestimmtes Gefühl, das sie mit vielen anderen jungen Menschen dieser Welt teilen. Sie sind enttäuscht über die Situation, in die sie von ihrer Umwelt gebracht wurden. Einem fehlt ein Bein, ein anderer ist Schwarzer, eine andere ist ein Mädchen, das nicht den Rollen-Klischees entsprechen will. Sie haben mehr vom Leben erwartet. Aus diesem Gefühl wächst die Unzufriedenheit, die von einer besonderen Kraft unterstützt wird, die du hast, wenn du jung bist. Du möchtest ein größeres Leben haben. Das ist der Teil der Geschichte, in die ich mich verliebt habe, als ich das Drehbuch von Lars von Trier gelesen habe. Aber dieser Teil war fast unsichtbar in der Erstversion.

Warum war er unsichtbar?

Weil das Buch von einem Schachspieler geschrieben wurde. Es wurde geschrieben von einem mathematischen Genie, das emotional nicht besonders eingebunden ist in solche Dinge.

Vielleicht ist Lars von Trier einfach nicht so idealistisch wie Sie. Sie scheinen sich sehr mit diesen Menschen zu identifizieren.

Ja, das habe ich versucht. Im Originalskript waren die Figuren alle Mitte dreißig. Das Buch war eine faszinierende politische Allegorie – was es auf eine gewisse Art auch noch heute ist. Genau wie in Lars’ »Dogville« handelte es sich um ein Schachbrett auf dem sich Figuren bewegen, das du aus einer gottgleichen Perspektive beobachten kannst. Die Idee der Kollaboration zwischen Lars und mir war, dass ich diesem Experiment emotionales Leben einhauche. Ein Film, den man auf Augenhöhe und durch die Augen junger Menschen erlebt. Als erstes machte ich die Figuren also um 15 Jahre jünger.

Was ich eine ziemlich gute Idee finde...

Diese Entscheidung gibt dem Film etwas Naives, aber auch einen Bezug zu der Zeit deines Lebens, in der du solche Dinge tust. Ich habe auch solche Geheimklubs gegründet. Und ich liebe es, so etwas im Kino zu sehen. »Breakfast Club« oder »The Lost Boys«, mit solchen Filmen fühlte ich eine Verbindung, als ich das Buch las. Eine andere Verbindung, die mich mit Angst erfüllt, ist das Schulmassaker in Columbine 1999. Das ist die gleiche Sache. Untröstlich über die Tatsache zu sein, in einem absurden, perversen Alltag zu leben, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. Es geht immer um Widerstand gegen die traurige Natur des Lebens. Ich mochte diese sentimentale Geschichte. Ich bin ein sentimentaler Mensch. Das Dilemma, entweder in den Tod zu gehen oder sich dem Alltag auszusetzen und die Gruppe aufzugeben, hat mich sehr bewegt. Ich fand das Drehbuch schrecklich und schön in seiner starken Loyalität jungen Menschen gegenüber. Manch einer sieht »Dear Wendy« nur als politische Allegorie. In diesem Falle wäre der Film jedoch gescheitert.