Koln gräbt

Die Schächte der neuen Nord-Süd-Bahn fräsen sich durch 2000 Jahre Kölner Stadtgeschichte – von den Römern bis in die Gegenwart. Bevor dort aber KVB-Haltestellen entstehen, wo heute noch römische Hafenanlagen oder mittelalterliche Latrinen liegen, sind die Archäologen am Zug – um so viel wie möglich von dem zu dokumentieren, was dann

zerstört wird.

Die Drohung des Baggers haben die beiden Männer mit Schutzhelm und Signalweste immer im Blick. Keine fünf Meter von ihnen entfernt lärmt die Maschine in der riesigen Baugrube vor der Kölner Philharmonie. Ungerührt kratzen die beiden Archäologen mit kleinen Holzspachteln Lehmreste aus einem Steinhaufen. Neben ihnen schabt die schwere Schaufel des Baggers eine weitere Erdschicht ab. Wieder verschwindet ein kleines Stück von einer der vielen alten und sehr alten Städte, die unter dem modernen Köln liegen.

Jahrhundertprojekt der Archäologie

Marcus Trier vom Römisch-Germanischen Museum kann aus seinem Bürofenster in die Baugrube schauen. Er nennt das, was seine Kollegen und die Bagger dort und in den sieben anderen Gruben entlang der neuen U-Bahn-Strecke tun, »dokumentierte Zerstörung«. Als archäologischer Projektmanager beim Bau der Nord-Süd-Bahn ist er dafür zuständig, dass die Spachtel zum Einsatz kommen, bevor die Bagger weitermachen. Der Kölner U-Bahn-Bau, sagt Trier, sei ein »Jahrhundertprojekt der Archäologie«, vergleichbar nur mit ganz großen Grabungen wie in Neapel oder Athen. Neben der Zerstörung von historischer Substanz biete das Projekt auch einen ungeheuren Wissensgewinn: »Das Füllhorn rheinischer Geschichte wird ausgeschüttet.«

Star unter den Gruben

Die Baugrube vor der Philharmonie nimmt fast den gesamten Kurt-Hackenberg-Platz zwischen dem Römisch-Germanischen Museum und dem gegenüberliegenden Hotel ein. Diese Untersuchungsfläche ist der Star unter den acht Gruben. Hier floss nämlich bis ins zweite nachchristliche Jahrhundert ein Rheinarm, der die Martinsinsel, den heutigen Standort von Groß St. Martin, von der Innenstadt trennte. Und nicht nur das: Auch der Hafen der römischen Stadt lag hier – das Gefälle hin zum damaligen Rhein ist auch heute noch im Gelände zu erkennen. Im zweiten Jahrhundert wurde der Hafen aufgegeben, wahrscheinlich weil der Rheinarm nach einigen heißen Sommern austrocknete, und an die Ostseite der Insel verlegt. Die Hafenrinne wurde nach und nach zugeschüttet und so zum Teil der Innenstadt. Am römischen Hafen sind die Ausgräber vom Kurt-Hackenberg-Platz aber noch lange nicht angekommen. Er liegt etwa 13 Meter tief unter der Erde.

Antworten auf viele Fragen

Der Haufen Steine, von denen die beiden Archäologen neben dem Bagger die Lehmreste entfernen, ist bisher der spektakulärste Fund in dieser Grube. Auf den ersten Blick sieht er aus wie Bauschutt – und das ist er auch: Die Steine stammen von einer zusammengestürzten römischen Hauswand, erklärt Bernhard Irmler vom Römisch-Germanischen Museum. Auf den zweiten Blick ist unter dem Lehm noch der Wandputz zu erkennen, mit farbiger Bemalung. Jedes Detail dieses Steinhaufens wird genauestens abgezeichnet und fotografiert – denn es kann vielleicht Antworten geben auf viele Fragen: Ist die Wand aus Altersschwäche umgestürzt, oder ist sie zerstört worden? Zu was für einem Gebäude gehörte sie? Wer hat hier gewohnt oder gearbeitet? Schon die bloße Existenz der Steine bedeutet eine wichtige Information: Im dritten Jahrhundert, aus dem die Mauer stammt, war die ehemalige Hafenrinne also bereits so weit trocken gelegt, dass eine Bebauung möglich war.

Tierknochen, Scherben und Werkzeuge

Gut zwanzig Archäologen verschiedener Fachfirmen arbeiten am Kurt-Hackenberg-Platz an Überresten aus fast 2000 Jahren. Der östliche Teil der Baugrube ist mit Betonplatten verschlossen, über die der Verkehr rollen kann – hier graben die Archäologen im Schein starker Jupiter-Lampen. Im Süden der Grube fällt Tageslicht ein, hier ist das Erdniveau noch etwas höher: Mittelalter. Fünf Steine nebeneinander lassen eine Mauer erahnen, die hellen Flächen im Erdreich sind Lehmstampfböden. Hier stand vermutlich ein fränkisches Wohnhaus.
Eine Archäologin entfernt mit einer kleinen Metallkelle die Erde von den alten Fußböden. Neben ihr unter einer Zeltplane stehen blaue Fundkisten: Tierknochen, Scherben, Werkzeugreste – alles, was auf das Leben der Menschen schließen lässt, wird in Tüten verpackt und beschriftet, um später genauer ausgewertet zu werden. »Töpfe zum Beispiel sind ein sehr modisches Produkt«, sagt Irmler. Die Topfmode verweist auf den Zeitraum – und hilft so bei der Datierung.

Rekonstruktion der Lebensumwelt

In einer Erdwand über den fränkischen Böden zeichnen sich helle und dunkle Schichten ab. »Wir setzen senkrechte und waagerechte Schnitte«, sagt Irmler. »Wie bei einem Kuchenstück können wir so den Verlauf der verschiedenen Schichten sehen« – und Erkenntnisse über die Stadtentwicklung gewinnen. Die Schnitte zeigen auch »Störungen«, wenn etwa eine mittelalterliche Latrine von oben bis in die tiefer liegende römische Schicht hinunter gebaut wurde. »Wie wenn man eine Kirsche von oben in den Kuchen drückt«, sagt Irmler. Die Archäologen sortieren die verschiedenen Epochen säuberlich auseinander – und halten fest, wie sie ineinander verschoben sind.
Bei der Analyse der Schichten helfen auch die Naturwissenschaften. Gerade in den Feuchtböden der alten Hafenrinne hat sich viel organisches Material erhalten. Anhand von Baumringen lassen sich Hölzer datieren und das Klima bestimmen, Pollen, Tiere oder Knochen geben Auskunft über die Landschaft, aber auch die Ernährungsgewohnheiten im alten Köln. »Unser Ziel ist eine Umweltarchäologie«, sagt Marcus Trier, »die Rekonstruktion der Lebensumwelt.«

Die U-Bahn kommt

Weil das Römisch-Germanische Museum nicht nur ein Museum, sondern zugleich auch das Kölner Amt für Bodendenkmalpflege ist, wachen Trier und seine Kollegen darüber, dass die Grabungen in den Gruben diesem Ziel so nahe wie möglich kommen. Vier bis 18 Monate haben die Archäologen je nach Baugrube Zeit, um die verschiedenen Epochen der Stadtgeschichte frei zu legen, zu dokumentieren und Funde zu sichern. »Solange laufen die Baustellen unter der Regie der Archäologen«, sagt Trier. Dann kommt die U-Bahn.