Schmerz, ironisch

Die Verbindung von Tanz und Schauspiel: ein Besuch beim Kölner Moving Theatre

Hier ist sie angekommen – die Freie Szene sitzt im Herzen des Bürgertums. Will man zum Büro des Moving Theatre, betritt man eines der wenigen in Köln noch existierenden alten Bürgerhäuser und wandelt eine mehrere Meter breite Treppe nach oben – einschüchternde Herrschaftlichkeit. Doch dann trifft man auf die erste Charme-Offensive: Ein kleiner, zarter Mann mit einer Unmenge Junk-Food in Händen und Mund öffnet die Tür und entschuldigt sich wortreich für Mayonnaise-Finger auf Englisch mit italienischem Akzent: Emanuele Soavi, Choreograf beim Moving Theatre, ein sympathisches Energiebündel.

Musik, Theater und Tanz vereint

Mit Soavis Pommes-Eau de Toilette kommt auch die Erinnerung: an die billigen Gerüche in der letzten Performance des Moving Theatre, als die Kompanie ihr Publikum in die inszenierte Tristesse eines Mietshauses entführte, um hier mit dem Stück »Intense« dem Geruchs- und Geschmackssinn zu huldigen. Blumenkohlaroma attackierte gleich zu Beginn die Chemorezeptoren der Zuschauer, Kaffeeduft oder der künstliche Geruch eines Auto-Bäumchens Sorte »Erdbeer« folgten. So herrscht auch im edlen Ambiente des neuen Büros kein Bürgerdünkel, zumal die Kompanie den Raum sich mit zwei Designern teilt. Es geht steil aufwärts mit der Kölner Freien Gruppe. 1997 hatte der Schauspieler Achim Conrad genug von seinen Engagements an Stadttheatern in Mainz, Wien oder Dortmund. »Selber machen« lautete seine Devise – und zwar mit interdisziplinärer Ausrichtung. Der Schauspieler, der einen Teil seiner Kindheit bei den Regensburger Domspatzen verbrachte und eine Passion für den Tanz pflegt, rief das Moving Theatre ins Leben. »Seitdem ist es deutschlandweit das einzige Freie Theater ohne Haus, das die Sparten Musik, Theater und Tanz vereint«.

Revuen mit Tournee-tauglicher Qualität

Unter dem neuen Dach erarbeitet Achim Conrad mit dem Musiker Manfred Knaak Tournee-taugliche Revuen. Und für eine Bereicherung der Kölner Freien Szene sorgt er durch seine Kooperation mit den beiden Choreografen Massimo Gerardi und Emanuele Soavi. Die beiden Künstler, die parallel an renommierten Häusern in Deutschland, Italien und den Niederlanden arbeiten, schaffen es für ihre Produktionen immer wieder, grandiose Tänzer zu verpflichten. Eine Qualität, die in Köln oft fehlt. »Wir sind selbst manchmal überrascht, weil wir doch eigentlich noch gar berühmt nicht sind«, sagt Soavi. »Aber inzwischen rufen uns die Tänzer schon an und fragen nach Auditions.« So kommt es, dass in ihrer letzten Produktion »Intense« der Ex-Forsythe-Tänzer Tamás Moricz in einem großartigen Solo die schnellen, dezentrierten Bewegungen aus Frankfurt importierte, während Flavia Tabarrini, Mitglied bei pretty ugly tanz köln, und Adam Ster vom Scapino Ballett Rotterdam in einem grotesk-zarten Duo von der sperrigen Erotik unserer biblischen Ursprungsahnen erzählen. Eine klassische Basis ist obligatorisch für den Tanz des Moving Theatre. Gerardi konkretisiert: »Wir arbeiten nicht mit ganz jungen Tänzern. Wir brauchen die Erfahrung älterer Tänzer, um in kurzer Zeit mit der Fülle von Material zurecht zu kommen.« Für »Intense« waren es gerade mal vier Wochen Probenzeit. Dann ist der Tanz zwar erstaunlich perfekt, die Verbindung mit dem Schauspiel aber oftmals noch nicht. Achim Conrad schlurfte in »Intense« als einsamer Freak zwischen den Tänzern umher, suchte nach Endorphin-Ausstoß durch Nutella, Wunderpillen oder dem Apfel Marke »Eden«. »Gegen die ästhetische Kraft des Tanzes habe ich als Schauspieler erst mal ein Defizit«, offenbart Conrad bescheiden. Massimo Gerardi beschwichtigt: »Tanz ermöglicht eine große Freiheit der Interpretation durch den Zuschauer. Das Schauspiel soll das Thema dann konkretisieren.«

Drastisch, laut, aggressiv

Die Zuspitzung eines Themas findet Conrad in der Form der Satire. Inszenierte er bei »Intense« seine Auftritte wie Werbepausen im Fernsehen, so gab er im ersten Teil dieser Pentalogie der Sinne, in »Can you hear me?« über den Hörsinn, einen sadistischen Zuchtmeister. Und in »Detailed Fingerprints« über den Tastsinn spielte er den Duschmörder aus Hitchcocks »Psycho«. Drastisch, laut, aggressiv. Dabei kann er doch ganz anders. Denn das Moving Theatre lebt auch von seinen erfolgreichen Schauspielproduktionen: Zwei-Personen-Stücke über Liebe, Krankheit, Tod, die Conrad feinfühlig, intelligent und ohne Regisseur jeweils mit einer Partnerin entwickelt. In Eric Rohmers »Trio in Es-Dur« gibt er einen empfindsamen Pedanten, dessen kompliziertes Seelenleben eine Beziehung unmöglich macht. Und in dem gerade vom Land NRW zum Jugendtheaterstück des Monats prämierten »Dossier Ronald Akkermann« von Suzanne van Lohuizen spielt er einen an Aids verstorbenen Untoten.
Über siebzig Mal ist Conrad im letzten Jahr mit seinen Schauspiel-produktionen aufgetreten. Er spielt in Kleinstädten und Schulen, diskutiert als Akkermann mit Pubertierenden über sexuelle Orientierung und Aids. »Natürlich basiert die Selbstausbeutung der freien Arbeit auf einer großen Lust und auf dem Optimismus, dass es Sinn macht: Sinn für die jeweilige Stadt, für das Publikum und für einen selbst. Aber wir heißen nicht umsonst Moving Theatre: Wir können weiterziehen.« Hoffentlich nicht. Hoffentlich bleibt Köln dieser Mix aus Tanz und Theater über Melancholie, Schmerz und Selbstironie erhalten.

»Dossier: Ronald Akkermann« von
Suzanne van Lohuizen, Benefizaufführung für die Kölner Aidshilfe, 26., 27.11., Theater im Bauturm, 20 Uhr.
www.movingtheatre.de