Tarnung und Durchbruch
Ballons über Kiel, über der Kieler Börde. Ganz viele. Sie werden von Stahlseilen gehalten, schweben 100 Meter über der Stadt, oder noch höher, manche sind untereinander vertäut. Was für ein schönes, bizarres Bild, was für Eindrücke! Norman Junge schaut auf diese Pracht, die der Großvater ihm zeigt, und staunt. Es ist eine ganz frühe Erinnerung, Junge ist da vielleicht drei, vier oder fünf. Was sich da übers Kieler Panorama spannt wie Knollen, die bald aufblühen werden oder vielleicht platzen, dient nicht dem Staunen und der Erheiterung. Die Ballons sollen die Bombenangriffe der Alliierten erschweren, die Tiefflieger verhindern. Der Zweite Weltkrieg tobt, Kiel mit seiner Torpedowerft ist ein besonderes Ziel für die Bombergeschwader. Dass sie von Ballonstaffetten aufgehalten werden sollen, scheint hilflos. Die Bomber fliegen doch viel höher. Aber Junge, der mit seiner Familie in einem vergleichsweise geschützten Vorort wohnt, ist sich sicher, dass die Bomber, deren Brummen ihre Ankunft schon qualvolle Minuten vorher ankündigte, so tief flogen, dass er die Besatzung sehen konnte.
Norman Junge sitzt im Café Lichtenberg in der Kölner Innenstadt, seinem Büro, wie er sagt. Hier empfängt der 81-jährige Zeichner, Maler und Bildhauer seine Freunde, liest Zeitung, trinkt Espresso und lässt sich Croissants bringen. Es gibt immer etwas zu besprechen. Ganz aktuell das Buch »Malermanöver«, das eine geniale Eulenspiegelei dokumentiert, die Junge und der 2015 verstorbene Kölner Filmemacher und Videoaktivist Christian Maiwurm vor mehr als 35 Jahren ausheckten. Junge bewarb sich für ein NATO-Manöver als Schlachtenmaler, Maiwurm sollte ihn dabei filmen. Ein Maler mit Staffelei stakst im Anzug durch die Reihen der Krieg übenden Kommissköppe: Die beiden linken Künstler versprachen sich einen Heidenspaß, durch diese absurde Konfrontation militärische Rituale bloßzustellen. »Malermanöver« dokumentiert diese Aktion in epischer Breite.
Aber es war nicht nur Satire. Deshalb erzählt Junge zuerst die Geschichte aus Kiel im Krieg. Der Krieg sitzt ihm in den Knochen, er hat seine frühe Kindheit okkupiert. Zu seinen ersten Erinnerungen zählt die Mitteilung, dass sein Vater gefallen sei. Diese Einschnitte haben sich in ihm später zu einer ganz grundsätzlichen pazifistischen Einstellung verdichtet. Krieg ist die tödliche Bedrohung, die aus einem blauen Himmel voller Ballons hervorbricht.
Viele von uns werden Junges Arbeiten schon in den Händen gehalten haben, ganz einfach, weil er ein bedeutender Kinderbuchillustrator ist und für einige Klassiker — buchstäblich — verantwortlich zeichnet, etwa für Ernst Jandls »Fünfter Sein«. Er war Karikaturist für Polit- und Satiremagazine — und er hat auch für die Stadtrevue gearbeitet: In den Jahren 1994 und 1995 illustrierte er unseren Gastroführer Tagnacht.
Anfang der 80er Jahre intervenierte er im öffentlichen Raum mit Siebdrucken, die Überwachung und Datenerfassung thematisierten. In dieser Zeit entstanden auch abstrakte Schlachtengemälde, die von einem Krieg der Maschinen und Roboter künden, drastische, grobe, rohe Bilder, auf denen sich die Maschinen gegenseitig schwere, organisch anmutende Wunden zufügen. Mit diesen Bildern bewarb sich Junge 1984 vorgeblich arglos beim Verteidigungsministerium: »Ich bin mir klar, daß unsere Bundeswehr keine Schlachten schlägt, im Gegenteil dazu da ist, diese zu verhindern. Darum muß sie ja Schlachten üben. Meine Bitte nun: als künstlerischer Interpret solche Übungen und Manöver unserer Bundeswehr begleiten zu dürfen, mitzumachen, um das Handwerk des Soldaten zu beobachten und in Öl zu malen.« Die Reaktionen: freundlich, skeptisch, wohlwollend, ratlos. Offensichtlich begreift niemand die Drastik seiner »Bewerbungsbilder«. Er wird an den Pressestab verwiesen. Der macht es schließlich möglich: Junge nimmt als künstlerischer Beobachter an dem NATO-Manöver Cold Fire teil, das im September 1986 in ganz Nordwest- und Südeuropa stattfindet. Der ihm zugewiesene Frontabschnitt ist der »Fränkische Schild«, in Junges Schlepptau sind Christian Maiwurm, der ihn filmen wird, und der Fotograf Axel Krause.
Junge stolpert mit Zeichenbrett, DIN-A3-Blättern und Tuschekasten gekonnt umher, sitzt vor Panzern, hockt in Löchern, kriecht aus bizarren Tarnvorrichtungen, sitzt gravitätisch auf weitem Feld und beobachtet die »Schlacht«, die in den Ritualen des Kalten Kriegs erstarrt ist (auf der Offizierstribüne ist auch ein Offizier der Roten Armee zu Gast). Krause und Maiwurm finden dafür großartige Bilder, die das lächerliche Geschehen formal streng festhalten. Als hätten Studenten aus der Becher-Fotoklasse für Monty Python gearbeitet.
Auf freiem Feld steht eine Tribüne, darin Offiziere und Generäle, ein Moderator oder Kommentator spricht von der Qualität der neuen Granattypen und erläutert taktische Züge, irgendwo hinten knallt und zischt es, Rauch steigt auf, Soldaten in komischer Tarnmontur, die doch besser jeden Kindergeburtstag bereichern würden, stoßen aus den Nebelschwaden hervor. Mittendrin der wahre Held: Der einsame Künstler, der um Übersicht und Fassung ringt und wilde Striche übers Papier zieht.
Ich bin kein Zyniker, sagt Junge, die Soldaten waren freundlich zu mir. Sie seien ihm mit Respekt begegnet: Ein Hubschrauber verweht ihm seine Skizzen, die Soldaten springen sofort herbei, um sie aufzusammeln.
»Malermanöver« dokumentiert nicht nur die Fotos von Krause und den Film von Maiwurm (der als DVD beiliegt), sondern erstmals auch die Arbeiten von Junge. Er nahm nicht in künstlerischer Absicht an dem Manöver teil, und dennoch ist Kunst entstanden. Die Skizzen und Zeichnungen von Panzern, Kanonenläufen, Hubschraubern oder Flussüberquerungen stehen für sich: Sie klagen nicht an, entlarven nicht. Sie verweigern schlicht und einfach dem gespielten oder beabsichtigten Krieg die Monumentalität. Junge hatte manchmal nur wenige Sekunden Zeit, um eine Bewegung der Truppen festzuhalten. Das muss reichen, mehr Respekt gibt es nicht. Es entstand sogar ein »richtiges« Bild. Schnell tackerte Junge Leinwand auf einen Rahmen, packte die Farbflaschen aus und machte sich in Manier des Action Paintings ans Werk. Er malte einen Panzerdurchbruch. Bezeichnenderweise ist dieses Bild heute verschwunden. Er zuckt mit den Schultern. Hat man mir gestohlen, meint er lapidar.
Das Verteidigungsministerium war es nicht. Junge hatte ihnen dieses Bild als Schlachtengemälde angeboten und eingereicht. Es gab sogar positive Rückmeldungen, angeblich war schon ein Platz freigeräumt worden. Aber dann kam nichts mehr, das Bild landete wieder bei Junge. Vermutlich lag es an dem Film Maiwurms, der in gekürzter Fassung mittlerweile als Beitrag für »Monitor« (»Pinsel, Panzer und Patronen«) gesendet worden war. Der Coup war gelungen, danach wollte man sich im Ministerium wohl keine Blöße mehr geben.
Foto: Axel Krause