Prosecco im Durchzug
Es wird so oft außer Haus gegessen wie nie zuvor. Ist das eine gute Nachricht für Restaurants? Nicht unbedingt. Vielmehr bereitet es dem Triumphzug der Handelsgastronomie den Weg. Denn immer mehr Händler bieten zusätzlich zum eigentlichen Sortiment die Gelegenheit, zu essen und zu trinken — und treten zu Restaurants, Cafés und Bistros in Konkurrenz. Warenhäuser und Supermärkte, Fachmärkte für Mode, Elektronik, Möbel — sie alle erweitern sich gastronomisch. Gewissermaßen liegt der Ursprung in der Tasse Filterkaffee beim Friseur. Ging es damals darum, Kunden einen angenehmen Aufenthalt zu verschaffen, ist aber das Ziel heute, Kunden überhaupt anzulocken und ihre Verweildauer zu erhöhen, damit sie mehr kaufen.
Interessant ist derzeit, wie sich Handelsgastronomie und klassische Gastronomie wechselseitig beeinflussen und angleichen: hier wie dort bekommt man immer öfter zum Streetfood veredelte Imbissküche, kann (und muss) Zutaten nach dem Baukasten-Prinzip selbst aussuchen — und nicht zuletzt wird der Service aufgelöst (»Bitte zum Zahlen an die Kasse kommen!«). Gefahr droht der klassischen Gastronomie aber, wenn sie nicht mehr länger von Handelsgastronomie zu unterscheiden ist.
Handelsgastronomien, das zeigen Studien, sind vor allem wegen der raschen Abfertigung beliebt, denn alle sind immer in Eile. Deutlich mehr als die Hälfte der Kunden nimmt für nur knapp zwanzig Minuten Platz. Die Attraktivität für die Kundschaft besteht aber noch in etwas anderem: Wer in der Einkaufspassage vor Sushi oder einer Bowl sitzt, fließt mit im unablässigen Strom der Kunden. Man ist embedded, man ist dabei, ohne teilzunehmen — weder stören Trubel und Lärm, noch dass einem jeder auf den Teller guckt. Im Gegenteil, man spürt Weltläufigkeit, wenn man Prosecco in der Zugluft einer Passage nippt.
Essen und gesehen werden — das Bedürfnis ist gar nicht neu. Die öffentliche Tafel gehörte schon zur Repräsentation am Burgundischen Hof. Ausgewählte Untertanen durften dem König beim oft stundenlangen Speisen zusehen. Ludwig XIV. führte später diese Zurschaustellung als regelmäßigen Event ein. Die moderne, wiewohl demokratischere Form sind südkoreanische Mokbang-Videos, in denen man Menschen stundenlang essen sieht. All das zeigt zweierlei: Essen ist immer an Geselligkeit gekoppelt, aber auch: Wir wollen beim Essen gesehen werden.