Sudoku balla balla
Als mir eine Liste allmählicher Verluste in die Hand fiel, erinnerte ich mich an die Schach-Ecke. Es gab sie früher in jeder Zeitung. Die Aufgabe bestand darin, in wenigen Zügen den König mattzusetzen oder aber die Raffinesse einer Partie zu begreifen, indem man deren Züge nachspielte. Noch heute gilt Schach als Zeitvertreib, der das logische Denken schult. Außerdem ist Schach komplex, und komplex war damals besser als simpel, wenn es um kulturelle Hervorbringungen ging. Der Gedanke, dass »My Baby, Baby, balla, balla« ebenso bedeutend sei wie eine Bach-Kantate ist vergleichsweise neu, wird aber immer häufiger anerkannt. Es gibt sogar einen feuilletonistischen Reflex, Komplexität als »prätentiös« anzuprangern. Es heißt, vielen Menschen erscheine die Gegenwart schon komplex genug. Da tut es womöglich gut, wenn man in der Kultur den Überblick behalten kann und nicht lange hin- und herüberlegen muss, was das alles bedeuten mag.
Nun ist aber die Schach-Ecke nicht durch etwas Banales ersetzt worden, sondern durch Sudokus. Eine Schachaufgabe sieht nach Rumpelkammer aus, ein Sudoku nach Feng-Shui. Sudoku ist außerdem pazifistisch und gendersensibel. Man schreibt ja bloß Zahlen in Kästchen und muss nicht Bauern schlagen oder Damen bedrohen. Wenn die Welt dadurch friedlicher wird, weine ich der Schach-Ecke keine Träne nach.
Ich hatte sogar ein Sudoku-Heftchen. Mit diesem kann man auch als Unkundiger rasch Erfolge erzielen, allmählich steigert man seine Fähigkeiten. Es gibt die Spielstärken leicht, mittel und schwer. Gesine Stabroth schenkte mir das Sudoku-Heftchen, aber prompt gab es wieder Streit. Ich meinte, es dürfe nicht »schwer«, sondern es müsse »schwierig« heißen, und dass es unseriös sei, wenn ein Spiel, dass das Denken schulen soll, sprachlich derart verlottert sei. Gesine Stabroth sagte, bis zu »schwer« käme ich ohnehin nicht, so doof wie ich sei, also weshalb dann die Aufregung? — Nun muss man wissen, dass Gesine Stabroth schon sehr viele Sudoku-Heftchen vollgekritzelt hat, auch einige mit prätentiösen Titeln wie »Giant Monster Mega Samurai«.
Es ist kindisch, aber diese Unverschämtheit stachelte meinen Ehrgeiz an. Jedenfalls konnte ich das Heftchen kaum noch weglegen. Es war eine Sucht, ich konnte nicht davon lassen, und ich hatte nicht den Eindruck, dass es mir gut tue. Zahlen in Kästchen schreiben — was bringt das, außer dass man kostbare Zeit vergeudet? Ich habe das Heftchen schließlich mit dramatischer Geste in den Abfalleimer geschmissen! Wenn man etwas ändern will, braucht es ein gewisses Pathos.
Ich sagte es Gesine Stabroth. Sie blickte mich mit diesem Greta-Thunberg-Blick an. Nicht, weil ich das Heft in den Restmüll geworfen hatte (es zum Altpapier zu geben, wäre mir halbherzig vorgekommen), sondern weil ich »also so mit nett gemeinten Geschenken umgehe«. Ich sagte Gesine Stabroth, falls ihr mal jemand Fortnite, Heroin oder dergleichen schenken würde, möge sie das bitte auch wegschmeißen — Geschenke, die abhängig machen, sind keine Geschenke, sondern böse. Da guckte Gesine Stabroth nicht mehr wie Greta Thunberg, sondern wie Jack Nicholson in »Shining«, bevor er mit der Axt die Klotür kaputthaut.
Ich nehme all das als Beispiel für die Gefahren von Komplexität. Sie kann unseren Geist verwirren. Von einer Bach-Kantate gelangweilt zu sein oder ein Sudoku-Heftchen zu früh und falsch zu entsorgen, ist da noch harmlos. Vielleicht sollten wir alle, die Komplexität überfordert, öfter »My Baby, Baby, balla, balla« hören. In den Zeitschriften könnte man statt Schach oder Sudokus schöne Fotos abdrucken. Hundewelpen zum Beispiel, die sehen doch süß aus, das begreift doch wohl jeder.