Mehr als nur singen
Eine unwirtliche Ecke in Warschau, die Glasfassaden neuer Bürokomplexe wechseln sich ab mit Ruinen grauer Plattenbauten im Stadtteil Służewiec. Hier wird gearbeitet, nicht gewohnt und schon gar nicht gemeinsam gesungen. Heute aber proben hinter einer schmucklosen Fassade 60 Sängerinnen und Sänger für ein Chorkonzert, das es nach Ansicht vieler Polen gar nicht geben dürfte. Sie haben 130 Stühle aufgestellt — in der Hoffnung, dass so viele Gäste kommen werden. Eine Zeitlang sah es so aus, als würde der Warschauer Chor »Voces Gaudii«, die »Stimmen der Freude«, gar keinen Veranstaltungsraum finden. »Wir haben 77 Anfragen gestellt«, sagt Joanna und scrollt durch die E-Mails, die sie und die andere Chormitglieder geschrieben haben. Manche der Angefragten sagten zwar zunächst einen Raum zu, doch als sie erfuhren, dass Voces Gaudii ein LGBT-Chor ist, gab es plötzlich einen Buchungsfehler und die Reservierung wurde aufgehoben. Etliche andere teilten auch offen mit, dass sie einen schwul-lesbischen Chor nicht unterstützen würden. »Man will uns nicht«, sagt Joanna schulterzuckend. »Aber das kennen wir schon. Umso wichtiger, dass wir das hier heute machen.«
Vor fünf Jahren gründete Misza Czerniak den Chor mit einer politischen Zielsetzung. Er und die anderen jungen Frauen und Männer wollten mehr als nur zusammen singen. »Uns ist wichtig, sichtbar und hörbar zu sein als fröhliche und laute Stimmen gegen die Hetze und die Beleidigungen durch unsere Regierung«, sagt Czerniak. Die nationalkonservative PiS macht seit ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen 2015 Stimmung gegen sexuelle Minderheiten. Im diesjährigen Wahlkampf hat die PiS den Ton noch einmal verschärft und setzt Homosexualität mit Kindesmissbrauch gleich, redet von einer LGBT-Invasion und sieht die Freiheit Polens bedroht. Etliche PiS-geführte Gemeinden haben sich während des Wahlkampfs zu »LGBT-freien Zonen« erklärt. Nach den Migranten hat die PiS nun Schwule, Lesben und Transgender als Feindbild entdeckt. Damit will die Partei die rechtskonservative Wählerschaft an sich binden — mit Erfolg. Bei der Wahl im Oktober erlangte die PiS satte Zugewinne und die absolute Mehrheit. Unterstützt wird die Anti-LGBT-Kampagne durch bekannte Vertreter der in Polen sehr einflussreichen katholischen Kirche. Marek Jedraszewski, Erzbischof von Krakau, predigt über die angeblich drohenden Folgen einer »Regenbogen-Plage« für polnische Familien. Und die Saat geht auf: Bei LGBT-Paraden wurden zuletzt in mehreren polnischen Städten Demonstranten angegriffen, mit Steinen und uringefüllten Flaschen beworfen. In Breslau stoppte die Polizei einen Mann, der mit Messern auf Teilnehmer der Parade zulief. Beim CSD in Lublin wurde eine selbst gebastelte Bombe entdeckt.
Heute Abend wird der polnische Chor von Gästen aus Köln unterstützt. Der LGBT-Chor »Die Taktlosen« ist nach Warschau gereist, um gemeinsam mit Voces Gaudii ein Zeichen für mehr Toleranz zu setzen. »Wir bewundern diese jungen Leute wegen ihres Engagement und ihres Muts«, sagt Ilka Tenne-Mathow, Chorleiterin der 32 Kölner Sängerinnen und Sänger. Der 1997 gegründete Chor hatte vor einiger Zeit noch darüber diskutiert, ob man sich in der LGBT-Hochburg Köln heute überhaupt noch »lesbisch-schwuler Chor« nennen solle. Hier in Warschau aber fühle sich die Bezeichnung richtig und wichtig an, sagt Chorleiterin Tenne-Mathow. In Köln gibt es acht LGBT-Chöre, in ganz Polen sind es nur zwei.
»Dieses Konzert heute ist das schönste, was mir in letzter Zeit passiert ist«, sagt der 25-Jährige Karol. Gestern hatte er noch Fieber. Aber das Konzert verpassen? »Kommt nicht in Frage. Lieber bin ich danach völlig im Eimer«, sagt Karol und lacht. Vor drei Jahren ist er zu Voces Gaudii gestoßen, und der LGBT-Chor hat sein Leben völlig verändert. Als Karols Eltern davon erfuhren, sorgten sie sich um den Ruf der Familie und legten ihrem Sohn nahe, sich eine eigene Wohnung zu suchen. »Es fühlt sich mies an, wenn du deine Liebe nie offen zeigen kannst«, sagt Karol. Händchenhalten auf der Straße — das trauen sich schwule Männer nicht einmal in der Metropole Warschau, die sich sonst westlich gibt. Zwei andere Sänger von Voces Gaudii sind kürzlich verprügelt worden, als sie vor einer Szene-Bar standen. Die Polizei habe den Vorfall nur widerwillig aufgenommen und nicht weiter ermittelt, sagen sie.
Vor fünf Jahren traute sich der frisch gegründete Chor Voces Gaudii zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Für einige Chormitglieder war dieser Moment ihr Coming-out. Von den heute 36 Mitgliedern sind etwa ein Fünftel heterosexuell, einige von ihnen haben Kinder. Demnächst wollen sie in der besonders konservativen Grenzregion zu Russland auftreten und erst nach dem Schlussapplaus darüber aufklären, dass sie ein etwas anderer Chor sind.
Jetzt hat der Einlass begonnen, nur ein paar Stühle sind bislang besetzt. Misza schaut skeptisch. »Ich hoffe, dass wir wenigstens unsere Auslagen wieder reinbekommen«, sagt er. Der Chor hat kaum Geld, viele der überwiegend jungen Mitglieder studieren. »Es bedeutet uns viel, dass ihr hier seid«, sagt Joanna aus Warschau kurz vor dem Auftritt. »Uns auch« antwortet Britta, trägt den knallroten Lippenstift auf, hebt die Faust und ruft: »Solidarność!«
Um Punkt acht Uhr öffnet Chorleiter Misza Czerniak die Tür zur Bühne. »Es ist voll«, flüstert er den anderen zu, und seine Augen strahlen. Mehr als drei Stunden singen die Chöre, mal im Wechsel, mal zusammen: Popsongs, traditionelle Lieder in Jazz-Versionen, neue Arrangements. Manche Passagen sind so laut, dass die Töne im Raum hängenzubleiben scheinen, dann wieder singen die Chöre so zart, dass man sie kaum noch hört. Ein anspruchsvolles Programm, auch sprachlich. Mal singen die Kölner auf Polnisch, mal die Warschauer auf Deutsch, dann beide auf Englisch. Es geht um die großen Fragen: Worauf kommt es im Leben an? Wie verlieren wir das Träumen nicht? Wie werden wir glücklich? Nach der letzten Zugabe steht jeder im Saal. Das Publikum will die Sängerinnen und Sänger nicht gehen lassen, so scheint es.
Zwei Tage später sind Die Taktlosen zurück in Köln. Da trifft eine Nachricht aus Polen ein. Joanna aus Warschau schreibt: »Im Publikum saß ein 14-jähriger schwuler Junge. Auf dem Weg nach Hause brach er in Tränen aus, denn er hatte noch nie Schwule und Lesben gesehen, die so glücklich und voller positiver Energie waren.«