Spielt mit postmigrantischen Klischees: Nava Ebrahimi | Foto: Peter Rigaud

Die Welt ist gestaltbar und andere Lügen

Nava Ebrahimi erzählt von Herkunft, Maskulinität, Verantwortung und dem Iran-Irak-Krieg

Subtil und bildstark war schon Nava Ebrahimis erster Roman »Sechzehn Wörter«. Zwischen Köln und Teheran spannte sich diese postmigrantische Story, die schließlich in einem Familienthriller mündete. Auch in ihrem zweiten Roman geht es um Identität und Herkunft: In »Das Paradies meines Nachbarn« treffen drei Männer aufeinander, deren Leben ganz ähnlich hätten verlaufen können, wäre da nicht die Zufälligkeit der Geburt.

Einmal alles resetten, Tabula rasa machen, das wünscht sich Sina Khoshbin (Persisch für: »der Optimist«), dem sein Leben irgendwann entglitten sein muss. Die Beziehung zu Katharina, die Verbindung zu seiner kleinen Tochter und sein Job als Produktdesigner in einer Münchener Agentur: Alles scheint zum Scheitern verurteilt. So auch die Skype-Anrufe bei seinem Vater, einem iranischen Geschäftsmann, den er irgendwo in Los Angeles an einem Pool vermutet. Da tritt der neue Design-Chef Ali Najjar in Sinas Leben — mehr Ereignis als Mensch — und nimmt ihn mit auf eine Reise nach Dubai. An diesem Nicht-Ort der glitzernden Oberflächen beobachten wir durch Sinas Augen die selbstherrliche Art Ali Najjars (Ali »der Zimmermann«), der sein Schicksal als ehemaliger Kindersoldat im Kampf gegen Saddam Hussein als Rags-to-Riches-Story inszeniert. Sina ist fasziniert und angezogen von dem Selfmade-Man, gleichzeitig wittert er einen Abgrund hinter dieser Fassade.

Der tut sich auf, als Sina in einer zwielichtigen Dubaier Hotellobby Ali-Reza gegenübersitzt. Ali-Reza ist der Ziehsohn von Ali Najjars verstorbener Mutter, ein Kriegsversehrter, Opfer des deutschen Giftgases auf iranisch-irakischem Schlachtfeld. Er ist aus Teheran gekommen, um Ali Najjar einen Abschiedsbrief der Mutter auszuhändigen. Zwischen Sina und Ali-Reza entwickelt sich eine eigenartige Verbundenheit.

»Ich bin eine wandelnde Enttäuschung für meine Mitmenschen«, lässt Ebrahimi ihren so gar nicht optimistischen Anti-Helden sagen — gefangen in seinem Halbdasein eines Deutschsozialisierten mit iranischem Aussehen und Namen. Als er Ali-Rezas Leid gewahr wird, erkennt Sina auch das seine.

Nava Ebrahimi zeichnet komplexe Figuren, die sofort mitreißen. Zwischen Dubai als Umschlagsplatz der Weltpolitik heute und dem Horror des Iran-Irak-Kriegs der 80er Jahre spinnt sie eine dramatische Geschichte, die geschickt mit Klischees von postmigrantischen Biographien spielt und am Ende die Frage nach Menschlichkeit und Verantwortung stellt.

Nava Ebrahimi: »Das Paradies meines Nachbarn«, btb, 220 Seiten, 20 Euro

Lesung

Di 19.5., Streaming bei Literaturhaus virtuell, 19.30 Uhr

 

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