Sit-in zu Hause
»Die Revolution wird nicht auf Youtube abonniert«, klingt mir der Poetry Slammer Temye Tesfu in den Ohren, als ich mich auf dem Weg zu meiner ersten Online-Demo mache. Denn einen Aufruf zu großen öffentlichen Versammlungen lässt das Infektionsschutzgesetz derzeit nur begrenzt zu. Deshalb ruft die »Seebrücke« (siehe auch Seite 8), eine Bewegung, die sich für sichere Fluchtwege einsetzt, zum virtuellen Protest auf: für die Evakuierung der Menschen in den überfüllten Unterkünften an den EU-Außengrenzen. Dem wollen eine Freundin und ich uns anschließen. Hinein ins Wohnzimmer, wo der Live-Stream schon auf Sendung ist.
Doch eine Sache fehlt noch: ohne Mampf kein Kampf. Das gilt natürlich nicht nur für Kohlehydrate zehrende Fußmärsche, sondern auch für den Sesselprotest. Also schnell zur nächsten Pommesbude. Einmal mit Ketchup, einmal mit Joppiesaus. Der Übergang zwischen Online-Demo und TV-Dinner verfließt.
Während wir uns die saucengetränkten Pommes in den Mund stopfen, begrüßen uns zwei junge Aktivist*innen der Seebrücke vor einem Bettlaken. Kurzes How-to-Online-Demo: Demo-Route bedeutet im virtuellen Raum, die Social-Media-Präsenzen der Entscheidungsträger*innen aufsuchen, um dort Botschaften zu hinterlassen und eine Petition zu unterzeichnen. Alles verknüpft durch das Hashtag #leavenoonebehind. Die beiden Moderator*innen bitten dabei um einen respektvollen Ton. Ein storm ohne shit, sozusagen.
Redebeiträge die uns auf den Tweet-Sturm einstimmen, dürfen auch nicht fehlen. Auf analogen Demos erschallen sie oft als verzerrte Sprachfetzen aus schrammeligen Soundanlagen herüber. Ohne diese Verfremdung sitzen die Menschen plötzlich ganz nah, in diesem Schaukasten. Auf ihre neue Rolle als Influencer*innen sind sie unterschiedlich gut vorbereitet. Hier scheiden sich die digital natives von den digital aliens. Letztere stehen auch im Internet auf ihrem imaginierten Lautsprecherwagen und verlassen sich auf den pastoralen Sprechrhythmus mit nachhallenden Endsilben, die rhetorische Pausen überwölben. Doch manchmal müssen sie den Luftschwall aus der Lunge auch bremsen — wenn ihnen klar wird, dass sie gerade in keine Menschenmenge hineinrufen.
Und jetzt sind wir dran. Etwas twittern. Nein, doch nicht. Ich fremdle mit dieser Aktionsform. Die Wahrheit ist: Wir sind die Couch-Potatoes unter den Home-Demonstrant*innen. So wie die, die ohne Schild mitlaufen und nur verschämt die Lippen bewegen, wenn alle um sie herum Parolen skandieren. Und wir sind die, die altkluge Bemerkungen zur Sprechhaltung der Redner*innen machen.
Ich sehne mich danach zurück, gelangweilt im Tross der Demo durch die Stadt zu latschten und am Sinn und Zweck meiner Sonntagnachmittagsbeschäftigung zu zweifeln. Denn als ein leergelaufenes Ritual habe ich viele solcher Demos wahrgenommen. Doch vielleicht ist die messbare politische Wirkung gar nicht notwendig. Vielleicht geht es mir viel mehr um die Vergewisserung einer diffusen gemeinsamen Handlungsfähigkeit. Das Gemeinschaftsstiftende stellt sich bei mir aber vor dem Bildschirm partout nicht ein.
Fabian Lind von der Seebrücke ist stolz auf deren erste Online-Demo, die zu Spitzenzeiten 6000 Zuschauer*innen versammelte und deren Hashtag #leavenoonebehind kurzzeitig den deutschen Twitter-Trend anführte. Doch angesichts der Absichtserklärung, fünfzig Kinder in Deutschland aufzunehmen, kann für Lind von einem Erfolg keine Rede sein.
Auch wenn die physische Demo vielleicht noch einiges von ihrer virtuellen Schwester lernen kann — wie man Videobotschaften aus aller Welt einbindet und für gute Soundqualität sorgt, zum Beispiel —, bleibe ich dabei: Die Revolution wird nicht auf Youtube abonniert.
Zurück zu Hause erhalte ich einen Anruf: »Mirjam, schön, dass wir zusammen auf der Online-Demo waren. Wir müssen aber noch besser auf den Abstand achten. Außerdem hast du deine Fritten in meine Joppiesaus getunkt. Das ist gerade nicht drin.« Eine Demo auf Abstand vor dem Computer — da bleibt die Frittensauce die letzte physische Verbindung.