Gänsehaut stur
Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch
Friedrich Hölderlin, Patmos
Wo aber Corona ist, nervt / Das Kitsch-Video auch
Die apokalyptischen Reiter sind nicht allein. Tänzelnd folgt ihnen ein böser Narr. Er tritt auf in Gestalt des zu Tränen rührenden Kitsch-Videos. Amateure knödeln Popsongs, von denen sie denken, dass deren Texte tiefsinnig die Krise kommentieren würden. Konzertpianisten beteuern, uns mit Sonaten beistehen zu wollen, obwohl sie sich bloß die Langeweile vertreiben und ihre neue CD bewerben. Wer sonst kein Talent besitzt, zerrt Kinder oder Haustiere vor die Kamera und lässt sie treuherzig maunzen. Es gibt einen unsinnigen, schäbigen Überbietungswettbewerb der Feinfühligkeit. Auf dessen Siegerpodest stehen die Grobiane des Gefühls, It-Girls und It-Boys des Elends.
Gesine Stabroth empört solches Reden. Ich sei herzlos. Die Menschen bräuchten Trost, sie sehnten sich nach Geborgenheit, auch im metaphysischen Sinne. Ich verstand, aber ich musste doch entgegnen: Diese Menschen, ich und wir, wir sehnen uns eben bevorzugt nach Geborgenheit, wenn unser kleiner unverdienter Luxus und das Klopapier zur Neige gehen. Unser blind im Strudel der Ereignisse schippernder Einbaum wird dann zum stolzen havarierten Ozeandampfer, damit wir rufen können: »Wir sitzen doch alle im selben Boot!« Nur sitzen die einen schon in den Rettungsbooten, während sich die anderen noch im Maschinenraum um die letzten Rettungswesten balgen.
Neben der vulgär-therapeutischen Ego-Show gibt es die geheuchelte Solidarität. Für einen billigen Trost und ein lauwarmes Gefühl ist derzeit jedes Mittel recht. Menschen werden digital zusammengepfercht und stimmen Durchhalteparolen an. We’ll meet again some sunny day
»Danke für die Emotion!« sagte dereinst der Fernsehpfarrer Jürgen Fliege zu einem kranken Mann, der weinte. Die Niedertracht des Talkshow-Pfaffen entlud sich nach seiner TV-Laufbahn dann in eher konventionellen Unverschämtheiten wie Quacksalberei und Reklame für esoterische Scharlatanerien. Wo werden wir noch enden? »Danke für die Emotion!«, das sagen wir ja heute auch allenthalben.
»Gänsehaut pur«, heißt es dann. Doch nachgestellte Adjektive verheißen niemals Gutes: Bundesliga total, Sex bizarr, Sommersonne satt. Gänsehaut pur — was klingt wie der Zwischengang in einem neumodischen Feinschmeckerlokal, ist in Wirklichkeit eine psychosomatische Hautreizung, die ähnlich pandemisch grassiert wie Corona.
Es gibt auch die aggressive Variante von Gänsehaut pur. Sie gibt sich trotzig, kämpferisch, sie ruft: Jetzt erst recht! Das ist auch so ein Satz, der fast niemals Sinn ergibt. Tobse Bongartz schickt mir eine Nachricht, darin steht: »Corona ist ein Arschloch.« Dies ist die Steigerung des Kitsch-Videos ins Hemdsärmelige. Sollte man sagen: »Gänsehaut stur«?
Eine Nebenwirkung dieses mikroskopisch kleinen Arschlochs, das sich Corona nennt und gegen das wir uns offenbar mit Gänsehäuten imprägnieren möchten, ist die Trübung des Denkens, die sich in der Sprache zeigt. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich die Wendung »in diesen verrückten Zeiten« gehört und gelesen habe. Wann waren denn die Zeiten weniger verrückt? Die meisten Menschen verhalten sich vergleichsweise vernünftig zurzeit. Aber ihre Geduld lässt sich allzu leicht strapazieren. Ach, nun gut. Mögen die Kitsch-Videos ihren Langmut stärken, aber möge man mich damit verschonen. Als wäre Corona nicht schon schlimm genug. Und wenn Gesine Stabroth jetzt wieder schimpft, dann sag ich einfach: Danke für die Emotion.