Der Mann mit der geschirrtüchernen Maske
Nun tragen wir alle Gesichtsmasken, es ist ein dunkler Karneval in diesen Tagen.
Der Blick in die verdeckten Gesichter weckt in mir eine Sehnsucht. Nach der guten alten Zeit? Nein, zwar bin auch ich Prä-Corona-Nostalgiker. Aber auch hier gilt: Früher war nicht alles besser. Denn früher rammten sie einem in der Supermarktschlange den Einkaufwagen in die Hacken, heute jedoch hält man Abstand. Social Distancing schont meine Nerven. Kein Bussi-Bussi, kein firm handshake, keine Umarmungen mit bloß bekannten Menschen — mir fehlt nichts.
Meine Sehnsucht gilt etwas anderem. Es ist Sehnsucht nach Konfektionsware.
Denn schon ist die »Maskenpflicht« zu einer Pflicht zu Kreativität und modischem Statement geworden. Modezaren rubrizieren bereits wieder in sexy und cute und verhängen gestalterische no-gos. Ich möchte aber nicht wieder einen Alltagsgegenstand zum Ausdruck meiner Persönlichkeit machen müssen. Ich will Massenware, die rein funktional ist und frei von ästhetischem Anspruch. Das wäre meine »Rückkehr zur Normalität«.
Der Mund-Nasen-Schutz ist ein Industrieprodukt, etwas Serienmäßigeres ist kaum vorstellbar! So möge es bleiben. Wo kämen wir hin, wenn in der Industrie nur nach den aktuellen Moden designte Funktionsbauteile verwandt würden? Schrauben, Schrumpfschläuche, Saugstrahlpumpen in den Farben der Saison? Ich muss doch sehr bitten! Doch in Modezeitschriften bieten sie bereits Typberatungen: Welcher Mund-Nasen-Schutz passt zu mir? Was trägt man im Büro? Was beim Shopping?
Selbst ein Virus, das — wenn auch auf eine hämische Weise — alle gleichmacht, wird zum Anlass genommen, sich ästhetisch zu profilieren. Geheimtipps kursieren. Welche Manufaktur hat die raffiniertesten Schnitte und ausgefallensten Designs?
Mundschutze werden inszeniert wie die Auslagen in Miederwarengeschäften. Keck und lasziv winden sich die Bänder. Es kommt, was kommen musste. Der Mund-Nasen-Schutz ist sexualisiert. Eben das ist ja das entsetzlich Öde am Kapitalismus: dass die gesellschaftlichen Reflexe, die er provoziert, so vorhersehbar sind. Ist es nicht albern? Ich finde Hygiene sollte prüde sein.
Nie hätte ich gedacht, wie wohltuend ich einmal die Hemdsärmeligkeit empfinden würde, selbst die von Herrn Hirmsel von Trinkhalle Hirmsel.
In den Beraterstäben der Behörden überschätzt man in diesen Tagen das Talent der Menschen, einfache Bastelarbeiten selbst zu verrichten, und so ist der Mund-Nasen-Schutz von Herrn Hirmsel eben ein zerrissenes Geschirrtuch, dass mittels Haushaltsgummis irgendwie am Schädel zu befestigen ist oder sein sollte. Herr Hirmsel ist der Mann mit der geschirrtüchernen Maske. Er ist ein Rebell wider die Verfeinerung, er entzieht sich den Kategorien, er ist frei.
In modischen Kategorien gesprochen ist Herr Hirmsel weder sexy noch cute; es ist nicht unverschämt, das zu sagen. Der Mund-Nasen-Schutz, den Herr Hirmsel trägt, macht ihn allenfalls zum modischen rule breaker. Damit meine ich aber keine frechen ästhetischen Grenzüberschreitungen, die kommende Saison begierig von fashion victims nachgeäfft werden. Nein, Herr Hirmsel ist rule breaker im plumpen, ja, im bedenklichen Sinne: Er trägt den Mund-Nase-Schutz zwar, jedoch bevorzugt mit den Händen. »Das Dingen nervt«, sagt Herr Hirmsel. »Außerdem stört’s beim Rauchen. Hab’s probiert, geht gar nicht.«
Hoppla! Geht-gar-nicht ist wiederum Fachvokabular der Modewelt, ich kenne es von Gesine Stabroth. Aber Herr Hirmsel betont »geht-gar-nicht« auf der ersten Silbe, nicht auf der zweiten. Es sind solche Feinheiten, die den Unterschied machen, in der Mode und in der Rebellion gegen sie.