Stadtrevue liest

Was wäre der Sommer ohne Sommerlektüre? Unsere Literaturredaktion hat vier Bücher ausgewählt, bei denen sich das Lesen lohnt

Ottessa Moshfegh: »Heimweh nach einer anderen Welt«

Bekannt sind die Geschichten der amerikanischen Autorin Ottessa Moshfegh vor allem für ihre komische Tragik. Mit dem Erzählband »Heimweh nach einer anderen Welt« zeigt die Tochter iranisch-kroatischer Einwanderer erneut ihr ungeheures Gespür für die sozialen Schieflagen einer Gesellschaft, in der der Traum vom besseren Leben längst zum Alptraum geworden ist. So begegnet man einer Lehrerin, die in den Ferien zum Drogenkonsum in eine marode Kleinstadt reist, oder einem Ärztepaar, deren Urlaubsbekanntschaft mit einem Strichjungen zum einzigen Bindeglied über den Tod hinaus wird. Für viele der Protagonisten beginnt das Leben erst mit dem Ableben; sie sympathisieren mit Zombies oder glauben an Aliens. Die Erzählungen der 39-jährigen Autorin sind Momentaufnahmen stillebender Existenzen, deren einzige Zukunftsperspektive im Konjunktiv einer besseren Welt liegt, die unerreichbar scheint oder, wie die jungen Zwillinge der letzten Geschichte glauben, die sich als magisches schwarzes Loch durch den Mord am »richtigen« Menschen eröffnet: »Warum, Jakub«, würde ich ihn fragen, »will ich immer nur sterben, wenn etwas so schön ist?« — »Weil es dich an den anderen Ort erinnert«, würde Jakub dann antworten.
(Verena Scheithauer)

Liebeskind, 336 Seiten, 22 Euro

 

Emmy Hennings: »Gedichte«

»Ich gehe morgens früh nach Haus. / Die Uhr schlägt fünf, es wird schon«, schrieb Emmy Hennings im Gedicht »Nach dem Kabarett« von 1913. Die 1885 geborene Künstlerin lebte damals in München und schlug sich als Sängerin durch, viele ihrer frühen Gedichte sind von diesem Leben geprägt. Und von ihrer Flucht in die Drogen, wie in »Ätherstrophen«: »Ich fliege in dem großen Raum / Ich mische mich in jeden Traum«. Zwar sind nicht alle ihrer Gedichte autobiografisch, dennoch lässt sich anhand der nun erschienenen gesammelten Gedichte — über 250 hat sie bis zu ihrem Tod 1948 verfasst — Hennings Leben nachvollziehen: die Anfänge als Expressionistin, von Reisen, Drogen und Affären geprägte Jahre, gleichzeitig eine Neigung zu religiösen Motiven. Ihr Gefängnisaufenthalt und der Neubeginn in Zürich an der Seite von Hugo Ball, 1916 Dada im Cabaret Voltaire, der Bruch mit der Antikunst und der Rückzug in den Katholizismus, zunächst gemeinsam mit Ball, nach seinem Tod in Trauer alleine: »Im Gruß liegt Abschied — im Anfang Ende. / Nur manchmal scheint meine Sehnsucht durch alle Wände.« Der sorgfältig edierte und kommentierte Band erweist der oftmals von den lauten Männern des Cabaret Voltaire verdeckten Künstlerin endlich die ihr zustehende Anerkennung als Lyrikerin.
(Jonas Engelmann)

Wallstein, 698 Seiten, 38 Euro

 

Ann Pettifor: »Green New Deal: Warum wir können, was wir tun müssen«

Eine Wirtschaft, in der die Klima­krise bekämpft wird und wir trotzdem nicht arbeitslos werden müssen? Das klingt zu gut, um wahr zu sein und wenn man ehrlich ist, sind wir davon auch ziemlich weit entfernt (Hallo, Konjunkturpaket!). Die britische Ökonomin Ann Pettifor lässt sich davon aber nicht den Optimismus verderben. Schon auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Jahr 2008 überlegte sie, ob man die Staatshilfen für den Banksektor nicht produktiver einsetzen könnte. Das war die Geburtsstunde des »Green New Deal«. Pettifor meint damit ein massives, öffentliches Investitionsprogramm in die Forschung und Wirtschaft, das den Umbau zu einer weitgehend emissionsfreien Produktion ermöglicht. Denn schließlich verdienten wir Bürger*innen, dass unsere Steuern auch zur Verbesserung unser Lebensqualität eingesetzt würden, so Pettifor. Ein konkretes Programm entwirft sie auf den 192 Seiten dann jedoch nicht. Stattdessen beschreibt sie in ihrem Buch mit vielen Argumenten, warum ein »Green New Deal« nötig ist. Wie genau er sich gestaltet, muss die Politik entscheiden — und dafür wird Kreativität und Mut nötig werden. Wenn wir eins aus den letzten Monaten gelernt haben, dann das.
(Christian Werthschulte)

Hamburger Edition, 192 Seiten, 22 Euro

 

Tommy Orange: »Dort Dort«

»Dort Dort« ist ein wütendes, engagiertes, auch drastisches Buch, dass das Leben der Natives in den USA des 21. Jahrhundert sichtbar macht. Wer den Debüt-Roman von Tommy Orange, der selbst der Nation der Cheyenne und Arapaho angehört, unter dieser Prämisse liest, liegt daneben. Nur knapp, aber doch entscheidend. Sicher, Orange eröffnet den Roman essayistisch mit einem Panorama der Verdrängung, Vernichtung und Verhöhnung, die die Menschen vor Ankunft der Siedler über Jahrhunderte durchlitten haben. Der moralische Ton, den Orange anschlägt, ist hoch und laut und sehr deutlich. Aber alles, was darauf folgt, ist ein dunkler, mehr gemurmelter und nur ansatzweise melodischer Blues. Orange zeigt in zersplitterten und sich dann doch tragisch verschlingenden Storys das Leben von Indigenen in einem trostlos urbanen Milieu: Hier ist die Entfremdung am größten — die Distanz zu ihrer Tradition und Geschichte —, und gleichzeitig besteht für sie die (kleine) Chance, diese Entfremdung als Freiheit zu begreifen und sich dieser Geschichte neu und unbefangen zu nähern. Orange skizziert eine positive Dialektik der Identitätspolitik: Eine ursprüngliche Gemeinschaft wird sich nie wieder herstellen lassen, neue Formen von Solidarität können aber trotzdem entstehen.
(Felix Klopotek)

Hanser, 289 Seiten, 22 Euro