Der Zuhörer
Die amtierende Kölner OB hat viele Gegenkandidaten. Daraus lassen sich mehrere Schlüsse ziehen. Zum einen, dass viele nicht mit Henriette Rekers Amtsführung einverstanden sind. Zum anderen, dass sich viele Menschen in der Kommunalpolitik engagieren möchten und wissen, dass man als OB-Kandidat sich und seine Politik besser präsentieren kann als auf einem Listenplatz für den Stadtrat. Aber es gibt noch eine dritte Deutung, nämlich dass Rekers politische Gegner sich nicht einigen können, wer die amtierende OB denn ablösen soll und kann – und ihr dadurch geradewegs zu einer zweiten Amtszeit verhelfen. Und dann ist man sogleich bei Andreas Kossiski, dem Kandidaten der Kölner SPD, der eben nicht ein Kandidat ist, auf den sich die von Reker Enttäuschten einigen können. Kossiski ist Sozialdemokrat alter Schule.
1958 in Schleswig-Holstein geboren, wird er als junger Mann Polizist, weil er die Demokratie schützen will, tritt auch in die Gewerkschaft ein, weil er die Solidarität der Arbeiterschaft schon als Kind kennenlernte. Später wird er DGB-Boss in Köln. Für eine Erneuerung der SPD steht Kossiski nicht.
Und während in den Zentren der Städte eine neue, akademisch geprägte Mittelklasse veganes Trendfood isst und über das Ende der Industriegesellschaft und nachhaltiges Wachstum, über Unverpackt-Läden und fair gehandelte Kindermode redet, da spricht Kossiski von der Bedeutung der Industrie, sieht einen Widerstreit zwischen Klimaschutz und Sozialpolitik und findet es richtig, dass dem 1. FC Köln ein Ausbau im Grüngürtel ermöglicht wird.
Wie bitte soll Kossiski in einer Stichwahl all die anderen Reker-Kritiker hinter sich vereinen?
Und immer wieder wird für alles, was in Köln nicht gelingt, Henriette Reker verantwortlich gemacht. Als Top-Thema hat sich die SPD im Wahlkampf für die Bekämpfung der Wohnungsnot entschieden. Reker gehe das Problem nicht an, lautet die SPD-Erzählung. Kossiski verspricht nun 10.000 neue Wohnungen im Jahr, die Hälfte davon Sozialwohnungen. Wie soll das gehen?
Die SPD hat eine Petition aufgesetzt, gerichtet an OB Reker: 500 Millionen Euro sollten für die Wohnungspolitik bereitgestellt werden. Doch bloß 628 Kölner haben unterschrieben. Nein, die SPD ist keine Social-Media-Partei. Natürlich macht Corona alles noch schwieriger. Die Stärke der Sozialdemokraten, das ist die Rolle des Kümmerers vor Ort – wenn sie dahin gehen, wo die Armut wohnt, wo es nicht immer gut riecht und wo die Menschen existentielle Probleme haben, weil ihr Job weg ist und sie die Miete nicht mehr zahlen können.
Wenn Andreas Kossiski aber nun mit sozialdemokratischen Lokalpolitikern durch die Veedel geht, dann sind meist Gespräche mit Multiplikatoren organisiert: einem Diakon der katholischen Kirche, der eine Lebensmittelausgabe für Bedürftige organisiert; einem Mitarbeiter eines Jugendzentrums, der von den Sorgen der Kinder in Zeiten von Corona berichtet; einem neuen SPD-Mitglied, das sich in einem sozialen Brennpunkt in einem Mieter-Rat engagiert. Kossiski ist dann ganz in der Rolle des Zuhörers, ist geduldig, wirkt interessiert, fragt nach. Mit seinen Erfahrungen als Gewerkschafter und Polizist hält er sich zurück, es sind immer nur ein, zwei Sätze, in denen er etwas klarstellen möchte oder korrigiert. Etwa wenn er erläutert, was Kriminalpräventive Räte sind, oder wenn er sagt, in welchen Kommissionen er sich schon mit welchen Themen befasst hat.
Aber was passiert, wenn etwas geschieht, das nicht geplant ist? Dann steht Kossiskis Entourage nach einem Gesprächstermin bei der Essensausgabe in Chorweiler etwa an der Osloer Straße. Während ein paar Häuser weiter die städtische Wohnungsgesellschaft GAG auf politische Initiative der SPD die ersten Häuser saniert und soziale Projekte organisiert, liegt hier Müll vor dem Eingang, die Tür ist zerschlagen, der Aufzug kaputt. Das Haus befindet sich in der Hand von Finanzinvestoren, die die Wohnungen verrotten lassen. Kossiski erklärt jetzt noch einmal die mühsame Initiative der SPD, und Inan Gökpinar, Fraktionschef in der Bezirksvertretung Chorweiler, redet vom Zusammenhalt der Menschen hier. Es geht jetzt etwas durcheinander, weil unklar ist, ob man den Journalisten die desaströsen Zustände im Treppenhaus zeigen soll — als plötzlich eine Frau aus dem Hochhaus tritt und flucht, weil sie aufgeschnappt hat, dass man stolz auf das schon Erreichte sei. »Stolz? Stolz worauf? Etwa auf diese ganze Scheiße hier?« Die Mittvierzigerin berichtet von Mäusen in den Wohnungen, von Nachbarn, die den Müll vom Balkon werfen, von heftigen Konflikten zwischen den Angehörigen ethnischer Gruppen und davon, dass sie von Jugendlichen ständig mit Worten sexuell belästigt wird. »Es gibt hier keinen Respekt«, sagt die Frau, die aus Russland stammt. Sie weint jetzt. Was nun? Die SPD-Politiker werfen sich Blicke zu: Wie bekommt man die Situation, zumal vor Journalisten, unter Kontrolle? Es ist Kossiski, der sagt: Erzählen Sie, bitte. Sie spricht über das Leben in Chorweiler, die Stimme bricht immer wieder weg, und all die Reden über die Solidarität der Menschen hier, wirken nun wie Hohn. Kossiski hört geduldig zu, die Frau gewinnt schließlich die Fassung zurück. »Ich will nur noch weg hier«, meint sie schließlich. »Zurück nach Kalk, da ist es besser.« Kossiski sagt ihr, an wen sie sich wegen der Zustände in der Wohnung wenden kann, erzählt, was er tun will. Aber es ist keine Wahlkampfrede. Die anderen SPD-Mitglieder stehen stumm daneben. Als die Frau sich bedankt, dass man ihr zugehört habe, drückt ihr Mattis Dieterich, der neue junge Vorsitzende des SPD-Stadtbezirks Chorweiler noch ein Wahlkampf-Flugblatt in die Hand. Der Tross zieht weiter. Jemand zeigt auf den Spielplatz vor den Hochhäusern und sagt, dass den damals noch OB Jürgen Roters von der SPD eingeweiht habe. »Reker hat sich hier kaum sehen lassen.« Das ungewollte Zwischenspiel ist überstanden. Es geht weiter zum Jugendzentrum Pegasus, wo ein Mitarbeiter über die Nöte der Kinder in Chorweiler berichtet.
Am Tag zuvor gibt Kossiski auf dem Ebertplatz eine Pressekonferenz, fünf Tage zuvor ist hier ein Mensch lebensgefährlich attackiert worden. Der Ebertplatz ist wieder in den Schlagzeilen. Der Platz war 2017, nachdem bei einem Streit ein Mensch starb, zum Gegenstand heftiger Debatten über die Sicherheit in Köln geworden. Die Stadt wollte mit den Künstlern und Galeristen in den verwinkelten Passagen den Platz sicherer gestalten, die Aufenthaltsqualität erhöhen. Heute sprudelt der Brunnen, es gibt einen Biergarten, die Galerien haben eröffnet, organisieren Veranstaltungen — aber dann, vor fünf Tagen, der Rückschlag.
Kossiski sitzt mit der SPD-Ratskandidatin Regina Börschel, die im Veedel wohnt, auf einem Mäuerchen, auch Michael Frenzel, für die SPD im Stadtentwicklungsausschuss, ist dabei. Die drei erklären, dass der Platz nicht sicher sei. Die Maßnahmen von OB Reker hätten nichts wesentlich verbessert. Tagsüber sehe man Eltern mit Kindern, junge Leute in den Liegestühlen am Brunnen. Aber abends sei alles wie zuvor. Die SPD will den Platz umgestalten, die verwinkelte Architektur sei ein Problem. Der Platz solle ebenerdig werden, barrierefrei, ein Platz für alle. Kossiski sagt, was er oft sagt: dass nichts geschehe, dass OB Reker nicht handle. Als die drei SPD-Politiker darauf hingewiesen werden, dass doch Anfang September eine Entscheidung im Stadtentwicklungsausschuss fallen werde, wie der Platz umgestaltet werden soll, kommt Unruhe auf. Offenbar war das nicht allen bekannt. Kossiski sagt, es hätte dennoch längst eine Bürgerbeteiligung geben sollen, was wiederum stimmt. Aber die soll ja nun nach der Entscheidung im Ausschuss auch folgen. Zu spät, findet Kossiski. Als das Gespräch etwas ausplätschert, alle Statements abgeben sind, sagt Kossiski: »So. Gibt es denn noch Fragen?« Die Pressekonferenz ist ansonsten beendet. Dann passiert wieder etwas, was nicht vorgesehen ist. Künstler aus der Passage sind nähergetreten, mischen sich ein. Sie widersprechen den Plänen der SPD, den Ebertplatz umzugestalten. Ihr Engagement mit Kunst und Kultur habe den Platz befriedet, und auch internationale Künstler wollten am Ebertplatz ausstellen. »Aha, wäre aber schön, wenn die nicht immer nur in die Innenstadt, sondern auch mal nach Chorweiler wollten«, sagt Kossiski freundlich, aber herausfordernd. Es entspinnt sich eine Diskussion, ob der Ebertplatz wirklich ein gefährlicher Ort sei. Einer der Künstler behauptet, die Kriminalität sei laut Statistik zurückgegangen. Kossiski widerspricht: »Ach, ich könnte ihnen als Polizist jetzt was über Hell- und Dunkelfeld erzählen. In bestimmten Milieus gibt es weniger Anzeige bei Gewaltdelikten als in anderen.« Plötzlich wird debattiert, die drei SPD-Leute stehen mit Journalisten und Künstlern in Grüppchen beisammen. Währenddessen weht der Geruch von Marihuana von einer Gruppe herüber, jemand torkelt heran und will eine leere Wasserflasche haben. Schließlich fährt noch ein Polizeiwagen auf den Platz. All das lässt Kossiski unkommentiert. Es brauche mehr Streetworker und Sozialarbeiter, sagt er, zudem Veedelsbeamte, die die Menschen und die Probleme im Stadtteil kennten. Und er erzählt von Kriminalpräventiven Räten, wo Vertreter von Polizei, Sozialarbeit, Initiativen und Bildungseinrichtungen zusammenkommen.
Davon spricht Kossiski oft, auch eine Woche zuvor in Porz, ein Stadtteil, in dem er sich kaum auskennt. Auch scheint Kossiski zuvor nicht ausführlich vorbereitet worden zu sein. Aber in der Papageiensiedlung, die als sozialer Brennpunkt gilt, ist er in seinem Element. Er lässt sich von Bewohnern die Situation erklären. Hier sind die Wohnungen der Wohnungsunternehmens LEG in einem schlechten Zustand, das Unternehmen war bis 2008 eine Entwicklungsgesellschaft des Landes NRW, wurde dann privatisiert. Die Bewohner hier wirken kämpferisch und gut informiert, die SPD hat sich als Ansprechpartner profiliert, ein Mieter-Rat wurde gegründet, einige sind in die SPD eingetreten. Kossiski macht den Menschen Mut.
Weniger überzeugend wirkt Kossiski, wenn es um die Verkehrsprobleme in der Porzer Innenstadt geht. Dass eine Autoschneise das Zentrum vom Rheinufer trennt und sich Fahrradfahrer kaum auf diese Straße trauen, sieht Kossiski zwar als Problem, aber man spürt keinen Elan. In der Fußgängerzone sagt er, dass man die einzelnen Verkehrsträger nicht gegeneinander ausspielen dürfe, und man merkt, dass ihm die Fahrrad-Lobby ein bisschen zu stark zu sein scheint. Aber die Verkehrswende, klar, die will er auch. Doch man kann sich mit ihm als OB nur schwer eine Mehrheit im Rat mit grüner Beteiligung vorstellen.
Die Linkspartei hatte noch Ende vergangenen Jahres versucht, ein »progressives Bündnis« gegen Reker zu bilden. SPD, Grüne, Piraten, Deine Freunde wurden zum Gespräch eingeladen. Es sollte jemand gefunden werden, der über die Parteigrenzen hinweg breite Zustimmung erhalten könnte, jemand, der die sozialen Fragen ins Zentrum stellt. Die Grünen lehnten ab, auch die SPD sperrte sich.
Nun hat die Linke mit ihrem Fraktionschef Jörg Detjen ihren eigenen Kandidaten aufgestellt. Jemanden, der auch die SPD-Themen Arbeit, Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit besetzt. Verkehrspolitisch und beim Klimaschutz zeigt sich Detjen jedoch zeitgemäßer als die SPD. Auch viele der anderen Kandidaten aus kleinen Parteien und Gruppen schreiben diese Themen groß auf ihre Plakate.
Auf Kossiskis Plakaten hingegen steht neben dem SPD-Logo immer der Zusatz »ein sozialer Demokrat«. Damit will man es denen, die nicht Sozialdemokraten sind, erleichtern, Kossiski zu wählen. Aber solche Wortspiele werden kaum reichen, in einer möglichen Stichwahl die anderen Reker-Kritiker hinter sich zu versammeln. Und wenn auf Kossiskis Streifzügen durch die Veedel die Genossen ihn als »zukünftigen Oberbürgermeister von Köln« vorstellen, dann wirkt der Applaus, der folgt, immer auch so, also wolle man damit die Frage verscheuchen, die dann in allen Köpfen dröhnt: Wie bitte soll Kossiski das denn schaffen? Wie soll er in einer möglichen Stichwahl gegen Reker all die anderen Reker-Kritiker hinter sich vereinen?