Mehr Urnengang wagen
»Was ist das?«, fragt der 16-Jährige vor dem City-Center in Chorweiler. »Das« ist die Kommunalwahl am 13. September, wo er zum ersten Mal wählen darf. »So richtig interessiert mich das nicht«, sagt er an diesem Samstag Mittag, fünf Wochen vor dem Wahltermin. Aber er kennt ein Gesicht auf den Wahlplakaten — Inan Gökpinar, Spitzenkandidat der SPD für die Bezirksvertretung in Chorweiler: »Mein Vater war mit dem in der Schule.«
Gökpinar steht am selben Tag etwas 100 Meter weiter, am Wahlkampfstand der SPD, und drückt Passanten bei 37 Grad Außentemperatur Flyer in die Hand. Immer wieder bleiben Leute auf einen kurzen Plausch stehen. »Ich kenne viele Leute hier«, sagt der AWB-Mitarbeiter, der in Chorweiler aufgewachsen ist. Die SPD wirbt dort mit Personen wie ihm. Das ist Strategie, erklärt ihr Stadtbezirksvorsitzender Mattis Dieterich. Man habe für jeden Stadtteil einen eigenen Flyer mit lokalen Gesichtern und Themen gestaltet und ein Wahlprogramm nur für Chorweiler geschrieben. »Wir wollen ansprechen, was vor Ort von Bedeutung ist.«
Und das ist in Chorweiler vor allem das Thema Wohnen. »Osloer Straße links«, sagt Inan Gökpinar und zeigt auf ein Hochhaus. Sein Putz ist fleckig, davor liegt Sperrmüll. »Und Osloer Straße rechts.« Dort sind die Balkone frisch gestrichen und die Fenster neu. Dieses Haus gehört der GAG. 2016 hat die Wohnungsgesellschaft dort rund 1200 Wohnungen gekauft, die stark renovierungsbedürftig waren. Auf den Weg gebracht hat dies Ex-SPD-Chef Jochen Ott. Auch am Umbau der zentralen Plätze in Chorweiler hat der SPD-Landtagsabgeordnete einen Anteil.
Aber reflektiert das positiv auf die Sozialdemokraten zurück? Chorweiler ist regelmäßig das Veedel mit der niedrigsten Wahlbeteiligung in ganz Köln, bei der Europawahl 2019 lag sie bei 30,6 Prozent. Studien haben gezeigt, dass die SPD viele Wähler*innen in Milieus mit unterdurchschnittlichem Einkommen hat. In Chorweiler gehörten 2017, zum Zeitpunkt der letzten Landtagswahl, 71,8 Prozent der Wahlberechtigten diesen Milieus an. Dort findet sich jedoch auch der höchste Anteil an Nicht-Wähler*innen und an diese hat die SPD bei den Kommunalwahlen 2014 in ganz Köln 5700 Stimmen verloren — das ist von allen Parteien am meisten.
Warum gehen Menschen nicht zur Wahl? »Es gibt nicht den einen Typus Nichtwähler«, sagt die Politikwissenschaftlerin Liesa Döpcke von der Universität Duisburg-Essen. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Stefan Haußner hat sie zuletzt im Europawahlkampf versucht, mehr über die Motivation von Nicht-Wähler*innen zu erfahren, etwa in Gesprächen an der Haustür. Liesa Döpcke spricht von einer Gruppe von bekennenden Nichtwählern, deren Verhalten oft ein Ausdruck von Systemkritik sei. Aber bei vielen anderen sei die Motivlage eher diffus: »Bei unseren Hausbesuchen war die Bereitschaft, über Politik zu sprechen oder sich zu informieren, oft nicht so ausgeprägt.« Auch bei Kommunalwahlen ist die Wahlbeteiligung niedrig, obwohl dort oftmals über Themen entschieden wird, die viel mit dem Alltag der Menschen vor Ort zu tun haben. »Wahlen folgen einer einfachen Heuristik«, sagt Stefan Haußner. »Ich gebe einmal eine Stimme ab und delegiere damit die Entscheidung über Dinge, von denen ich oft nicht so viel verstehe, weil über sie nicht viel berichtet wird. Das ist bei Bundestagswahlen anders.« Die Personalisierung könne helfen, für die Kommunalwahl zu mobilisieren, ebenso die Präsenz der Spitzenkandidatinnen in Stadtteilen mit hohem Anteil an Nichtwähler*innen oder die Einbindung lokaler Multiplikatoren.
In Chorweiler übernimmt diese Aufgabe das Bündnis »Stark im Kölner Norden«. »Wir haben schon im letzten Jahr beschlossen, die Kommunalwahl in den Mittelpunkt zu stellen«, sagt Neele Behler. Sie ist Community Organizerin und bringt Menschen zusammen, die in Religionsgemeinschaften oder Vereinen im Kölner Norden aktiv sind. Diese werden von »Stark« geschult, wie sie in ihrer Community auf die Kommunalwahl hinweisen können. »Es geht darum, dass die Leute überhaupt zur Wahl gehen«, sagt Behler. Die Corona-Pandemie stellt sie dabei vor besondere Schwierigkeiten: Das normale Sozialleben liegt oft auf Eis, kommuniziert wird stattdessen in Messenger-Gruppen, die weniger verbindlich sind.
Auch Klaus Roth, für Die Linke in der Bezirksvertretung Chorweiler, hat seine Erfahrungen mit der Organisation von Chorweiler Bürger*innen gemacht. Der 70-jährige Rentner hat eine Gruppe gegründet, die Mieter zusammenbrachte. Gemeinsam haben sie sich für Barrierefreiheit oder besseren Lärmschutz in den Mietshäusern eingesetzt. Mittlerweile existiert die Gruppe nicht mehr. Ein Teil hat sich zurückgezogen, nachdem sich die Situation in ihren Häusern verbessert hatte. Andere waren frustriert, weil die Stadtverwaltung ihrem Anliegen bürokratische Hürden in den Weg gelegt hat. Roth ist skeptisch, dass die Wahlbeteiligung diesmal steigt, auch weil Corona den Urnengang erschwere. »Wir können als Lokalpolitiker nur wenig bewegen«, sagt er. »Für die Stadtverwaltung hört Köln am Militärring auf«, meint auch SPD-Kandidat Inan Gökpinar. »Im Alltag verändert sich für viele zu wenig.« Aber er bleibt ehrgeizig. Sein Ziel ist eine Wahlbeteiligung zwischen 30 und 33 Prozent: »Für Chorweiler wäre das ein historisches Ergebnis.«