Mit rollenden Augen in die Einbahnstraße
Es gibt diesen Marshmallow-Test. Man serviert einem Kind einen Marshmallow. Je nachdem, was das Kind gern isst, kann man auch Pommes, Schlumpf-Eis oder gratinierte Jakobsmuschel mit Champagner-Sabayon und Kaviar nehmen. Dann stellt man das Kind vor die Wahl: Entweder jetzt die kleine Portion essen, aber dann war’s das auch, kein Nachschlag! Oder das Kind muss sich eine Viertelstunde gedulden, bekommt dann aber die doppelte Portion. O weh, da kriegt das Kind Kopfweh! Sein Präfrontaler Kortex will warten, aber sein Limbisches System sagt: Ach, her damit! Es ist der Bestimmer. Bei vielen Erwachsenen läuft’s genauso. Die Psychologie nennt das mangelnde Impulskontrolle. Die ist auch der Grund dafür, dass ich vom Paketboten all die Online-Expresslieferungen für die Nachbarn annehmen muss. »We want the world, and we want it now!«, war ein Schlachtruf der Hippies. Heute taugt er als Überschrift dafür, wie uns der Kapitalismus kindisch macht. Langmut, Warten, Geduld passen da nicht.
Wenn man in einem Bewerbungsgespräch nach Schwächen gefragt wird, soll man ja keinesfalls sagen, dass man auf Partys häufiger mal ins Büfett falle. Sondern man soll sagen, dass einem oft die Geduld fehle. Ungeduld ist für Leute, die sich solche Fragen für Bewerbungsgespräche ausdenken, nämlich keine Schwäche! Denn sie glauben, dann arbeite jemand immer weiter und komme erst zum Afterwork-Yoga nach, wenn all die windigen Finanzprodukte fertig ausgetüftelt sind.
In der Corona-Pandemie ist vielen auch schon der Geduldsfaden gerissen. Für sie der Atemschutz das Gegenteil von Marshmallows. Sie haben ihn über, aber immer seltener über Mund und Nase. Ihr Limbisches System will den Atemschutz erst unter die Nase ziehen, dann am Ohr baumeln lassen und schließlich ablehnen. Einen Atemschutz zu tragen, ist wie geduldiges Warten, nur dass am Ende als Belohnung bestenfalls der Status quo wartet.
Wer keine Impulskontrolle hat, hat aber Ausreden. Man sagt: Also, man kann auch alles übertreiben wegen Corona! und rollt mit den Augen. Überhaupt ist das Augenrollen eine erstaunliche pandemische Nebenwirkung.
Wenn man sich mit Gesine Stabroth auf ein neoromantisches Neonlicht-Dinner mit Pommes und Flaschenbier bei »Stukkis’ Gyros-Tempel« trifft, muss man ja diese Zettel ausfüllen. Stukki überreicht ihn mir mit einem dramatishen Augenrollen, weil er glaubt, ich sei genervt von diesem pandemiebedingten Bürokratismus. Bin ich aber nicht. Man hat ja direkt etwas zu tun, und braucht nicht zu überlegen, ob Gesine Stabroth eine neue Frisur hat, die man loben soll. Und während am Nebentisch Spaßvögel kichernd »Jens Spahn, Einbahnstraße 100, 12345 Entenhausen« notieren und mit einem X unterzeichnen, trage ich geduldig Wahrheitsgemäßes in Schönschrift ein.
Was mich an Stukkis’ Gyros-Tempel nervt, ist vielmehr das lauwarme Flaschenbier. Aber das zu reklamieren, das traue ich mich nicht. Love it? Leave it? Change it? Ich bin für die Liebe! Ich akzeptiere das Bier so, wie es ist, es ist warm, aber doch Bier. Stukki ahnt etwas und bietet in überdrehter Kundenorientierung an, das Bier im Gefrierfach zu kühlen, in bloß einer Viertelstunde sei die ideale Trinktemperatur erreicht. Eine Viertelstunde! Es war wie beim Marshmallow-Test. Mein Limbisches System hat bestimmt, und ich trank das Bier halt lauwarm. Gesine Stabroth hat ihres kühlen lassen. Ihr Präfrontaler Kortex ist echt super. Leider musste ich dann doch warten, weil Gesine Stabroth immer so langsam trinkt. Gesine Stabroth erzählte, sie habe auch mal einen Marshmallow-Test gemacht. Also die schmecken wirklich alle ausnahmslos scheußlich, sagt sie.