Wir sind immer noch am Anfang
Montag, 7. September. Abed Kobeissy sitzt entspannt im Stadtgarten, wir trinken Kaffee und Tee, der Spätsommer entfaltet sein ganz eigenes Licht. Abed kommt gerade von einer Probe mit Stellar Banger, der Köln-Beiruter Band, die in diesen Tagen wie keine andere freie Improvisation, Bassmusik, White Noise und arabische Rhythmen kombiniert. Er spielt dort Buzuq, eine arabische Langhalslaute. Er spielt sie elektrifiziert und stark verzerrt, Abed ist einer der führenden Vertreter der Beiruter Improvisations- und Performance-Szene, die in den letzten zehn Jahren zu den spannendsten weltweit zählte.
Aber natürlich geht es erstmal nicht um Musik, sondern um eine Katastrophe, die jetzt schon keinen mehr so recht interessiert, außer eben die zwei Millionen Einwohner Beiruts. Am 4 August explodierte im Beiruter Hafen eine Ladung Ammoniumnitrat, es ist die größte von Menschen verursachte Explosion nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Hunderte Menschen starben, zigtausende sind verletzt und obdachlos, große Teile der Stadt sind verwüstet.
»Es gibt unzählige Vermutungen über die Explosion«, hebt Abed an. »War das wirklich nur ein Unfall? War es doch ein Anschlag? Aber weißt du was? Es interessiert keinen. Nicht wirklich. Allein die Tatsache, dass die Regierung 3000 Tonnen Ammoniumnitrat über acht Jahre an einem schlecht gesicherten Ort im Herzen der Stadt lagerte, ist kriminell. Das ist die wahre Explosion: eine Explosion von Inkompetenz und Korruption.«
Warst Du vor Ort?
»Ja, ich war da. Ich hab’s zuerst gesehen und dann gespürt. Ich stand auf dem Balkon, ich wohne im fünften Stock. Zunächst war da diese gigantische orangene Rauchwolke, wie ein riesiger Pilz, fast ein Atompilz. Dann ein irrer Blitz — und dann habe ich sie gesehen, die Schockwelle. Es war wie im Film. Ich habe gesehen, wie sie eine Häuserreihe nach der anderen getroffen hat und wie die Fenster zersplitterten und dann hat sie mich getroffen. Als würde mich jemand hochheben und in die Wohnung zurückschleudern. Eine unglaubliche Kraft. Das alles geschah innerhalb einer Sekunde, aber man erlebt es wie in Zeitlupe. Ich bin während des Bürgerkriegs groß geworden. Das war unser Alltag, wir wussten, wie wir uns zu verhalten hatten, welche Wege wir gehen konnten. Aber diese Explosion sprengt jede Vorstellungskraft.«
Bist Du obdachlos?
»Ich hatte Glück, die Wohnung ist noch bewohnbar, das Fundament des Gebäudes ist intakt. Aber der Balkon ist hinüber. Ich selber bin mit einem Schleudertrauma davon gekommen.«
In Corona-Zeiten kommen Libanesen nicht in die EU. Eigentlich. Abed hat es trotzdem geschafft, Frankreich hat den Bürgern des Libanon die Einreise erlaubt, in Frankreich leben viele libanesische Familien. Nach der Katastrophe hat — mal wieder — ein kleiner Exodus eingesetzt, wer kann, der wandert aus. Abed Kobeissy ist 38 Jahre alt, er ist in Beirut geboren, bis 1990 herrschte dort Bürgerkrieg. Seit einem Jahr schießt die Inflation nach oben, dann kam Corona, dann die Explosion. Abed hält zu seiner Stadt, seine Familie lebt dort, er sieht sich in der Pflicht.
»Wir kommen ganz gut mit der Corona-Krise klar, wir sind leidgeprüft. Die Beiruter wissen, wie sie sich in Krisensituationen zu verhalten haben, sie legen sich Vorräte an, es gibt keine Panikreaktionen, wie ich sie bei euch gesehen haben. Die Leute gehen in der Krise zivilisiert miteinander um.«
2019 war das Jahr des Aufstände: Es gab eine riesige Bewegung in Beirut, die gegen Korruption, gangsterhafte Machtstrukturen, die beschissenen Arbeitsverhältnisse, die Verhinderung jeder transparenten Demokratie auf die Straße ging. Die Bewegung war überkonfessionell, und linke Kräfte spielten in ihr eine entscheidende Rolle. Abed ist einer ihrer Aktivisten.
»Der Westen ist in einem Dilemma: Sie haben ein Interesse, dass das Regime stabil bleibt, sie wollen die Hisbollah irgendwie in dieses Regime integriert sehen und sie wollen auf keinen Fall, dass es zu einer Revolution von unten kommt, die sich auch gegen die Einflussnahme ausländischer Politik in die inneren Angelegenheiten des Libanon richten würde. Zugleich trauen sie diesem Regime nicht. Sie wissen, wie korrupt es ist. Jeder Dollar Entwicklungshilfe versickert in der Klientelstrukturen der Cliquen und Konfessionen.«
Es ist bekannt, dass die Religionsfrage die libanesische Politik konstituiert, jede Konfession muss in der Regierung irgendwie berücksichtigt sein. Aber wie sieht es im Alltagsleben aus?
»Religion ist immer noch der große Identitätsfaktor. Deshalb war die Revolutionsbewegung letztes Jahr so wichtig. Denn hier spielten die Religionen keine Rolle. Die Bewegung wurde von allen getragen. Das war sehr euphorisierend — und machte uns aber gleichzeitig bewusst, wie lange der Weg sein wird. Denn das konnte erst der Anfang sein. Es wird Jahre dauern, die konfessionellen Denkmuster zurückzudrängen, gerade im Alltag. Wir wollen keinen neuen Bürgerkrieg, keine bewaffnete Auseinandersetzung. Die Hisbollah ist militärisch nicht zu besiegen. Nach all diesen Katastrophen in diesem Jahr — der Hyperinflation, der Explosion — weiß ich nicht, ob die Leute noch die Kraft für diese große Anstrengung haben.«
Welche Rolle haben Künstler und Musiker in der Bewegung gespielt?
»Du meinst, als Künstler? Für mich war es wichtig, auf die Straße zu gehen, sich zu organisieren, den politischen Konflikt zu suchen. Alle Künstler, die ich kenne, waren auf der Straße. Aber nicht, um Kunst zu machen oder der Bewegung einen künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Zum damaligen Zeitpunkt ging es darum, einfach Präsenz zu zeigen, rauszugehen, Widerstand zu leisten.«
Im Internet findet man die Information, Abed Kobeissy »history and aesthetics of Arabic music« an der Amerikanisch-Libanesischen Universität in Beirut. Er hat einen Abschluss in Musikwissenschaften und hat sich jahrelang mit etlichen Bürojobs durchgeschlagen. Wichtig ist ihm heute: Er ist Musiker. Seit 2015 kann er davon leben.
Wie hat sich in Beirut so eine lebendige Szene von Improvisations- und Clubmusik, von freiem Theater und Performancekunst entwickelt?
»Es ist Teil unserer Kultur, uns mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen. Beirut ist eine uralte Handelsstadt, hier wurden nicht nur Waren getauscht oder verschifft, sondern auch Ideen, Geschichten, Sprachen … Das ist unser Selbstverständnis. Das Regime mag autoritär sein, aber es hat nie das Internet zu zensieren versucht, nie den Zugang dazu gesperrt. Natürlich haben wie die Musik aus dem Westen gehört –haben sie aber sofort von unserem Standpunkt aus definiert. Beirut hat eine starke sonic identity, von der wir ausgehen. Wir kopieren keinen Free Jazz oder die britische Bassmusik. Sondern wir nutzen sie, um darüber unseren Urbanismus auszudrücken. Damit haben wir hier einen Nerv getroffen, es spricht die Leute an. Ich denke gar nicht so sehr ›musikalisch‹, sondern in Klängen. Das geht hier vielen so.«
Dazu gehört auch, dass Du eigentlich ein traditionelles Instrument spielst, die Buzuq…
»Aber ich möchte, dass sie metallisch klingt, klirrend, zersplittert, schroff, elektrisch aufgeladen. Mein Ausgangspunkt ist ein Instrument, dessen Klang jedes Kind in Beirut kennt. Und dann mache ich daraus etwas ganz anderes — was aber auch der Lebensrealität der Leute entspricht. Deshalb mag ich das Wort traditionell nicht, was heißt das denn genau? Ich bevorzuge lokal. Es geht um die Klänge, die uns in Beirut umgeben. Wir repräsentieren keine Kultur, sondern eine Stadt.«
Wir — das sind, ganz konkret, Two or the Dragon, sein Duo mit dem Percussionisten Ali Hout. Anfang des Jahres sollte endlich ihr Album erscheinen, die Krise hat auch das zunichte gemacht. So müssen wir uns mit ein paar Tracks auf Soundcloud und Bandcamp zufrieden geben (unbedingt suchen: »Prelude for the Triumphant Man«). Straffe, zugleich fragmentierte, melodisch präzise, rhythmisch treibende dabei immer die Grenze zur klanglichen Auflösung überschreitende Musik, die — für unsere bornierten Ohren — »arabisch« klingt, aber aus der Zukunft kommt. Hout lebt seit einiger Zeit mit seiner Familie nördlich von Turin, viele libanesische Theater- und Tanzgruppen arbeiten mittlerweile in Europa. Der Arbeitsschwerpunkt verlagert sich, notgedrungen.
Unglaublich aber wahr, Du bist in Deutschland, um eine Tour zu spielen — mit Stellar Banger. Du kommst gerade von einer Probe, wie probt ihr?
»Stellar Banger ist eigentlich das Treffen zweier Duos: Mein Duo mit Ali, und das Duo von Joss Turnbull und Pablo Giw. Joss ist ein fantastischer Percussionist …«
… und Pablo Giw ein großartiger Trompeter, eine wichtige Figur in der jungen Kölner Szene...
»Die beiden Duos gibt es jeweils schon lange. Wenn wir proben, arbeiten wir daran, wie sich die Duo-Strukturen auflösen und sich neue ergeben. Das ist ein Spiel von Nähe und Distanz. Wir improvisieren frei — einerseits. Andererseits unterhalten wir uns über unsere Ideen und probieren sie sofort aus. Daraus entsteht eine gemeinsame Sprache. Es ist sehr intensiv«
In der Tat, das konnte man hören: bei einem kurzfristig angesetzten Konzert im Stadtgarten am 14. September. Die Musik von Stellar Banger ist dezentral. Immer wenn man denkt, dass die beiden Percussionisten den Takt angeben, funken Giw und Kobeissy dazwischen. Und umgekehrt, wenn die Musik zu zerfasern droht, wird sie von Hout und Turnbull in einen Rhythmus zurückgezwungen. Aber das produziert Reibung, die schließlich das Rhythmuskorsett zersprengt. Kobeissy spielt häufig den Störfaktor, während Giw insbesondere den Schönklang beherrscht. Ab und zu ist der nötig.
Wie geht es weiter, habt ihr eure gemeinsame Sprache gefunden?
»Ja, definitiv. Der Sinn unserer gemeinsamen Sprache ist der, dass sie sich ändert. Dass sie sich neu erfindet. Wir haben mehrere Stunden Material aufgenommen. Wir sind immer noch am Anfang.«
Über den Fortgang von Stellar Banger informiert Pablo Giw: giwmusic.com/stellar-banger
Für 2021 sind ein Album und weitere Auftritte in Deutschland geplant.
Unter dem Schlagwort »NICA live Pablo Giw« ist auf Youtube ein aktueller Live-Clip von Stellar Banger zu sehen.