Melanin als Lebensentscheider
Mallard in Louisiana sei »ein dritter Ort«, heißt es im Roman »Die verschwindende Hälfte« von Brit Bennett. Vom »dritten Raum« hat auch der postkoloniale Theoretiker Homi Bhabha geschrieben, jenem Raum, der klare Identitätskonzepte erschüttert. So zeigt sich in Bennetts Roman ein junger Priester aus Dublin überfordert, als er nach Mallard kommt und nicht vorfindet, was er erwartet hatte: »Galt das etwa in Amerika, wo die Weißen unter sich bleiben wollten, als farbig? Wie sollte man überhaupt den Unterschied erkennen?« An diesem »seltsamen Ort«, der Stadt, die »mehr Gedanke und Vorstellung war als Ort«, haben die Schwarzen Einwohner über Generationen hinweg versucht, zu Weißen zu werden, indem sie sich möglichst hellhäutige Partner suchten. Zu einem Teil der weißen Mehrheitsgesellschaft zu werden, blieb dennoch ein unerreichbares Ziel, und so war Mallard »eine Stadt für Menschen, die nie als Weiße akzeptiert werden würden.«
Das Thema »Passing«, das Performen einer weißen Identität, wurde von Nella Larsen Ende der 1920er Jahre in ihrem gleichnamigen Roman behandelt. Larsens Protagonistin überlebt das Überschreiten der Identitätsgrenzen jedoch nicht. Anders in »Die verschwindenden Hälften« der 1990 geborenen Bennett, der ein halbes Jahrhundert aus der Perspektive der Zwillinge Desiree und Stella Vignes erzählt. Die beiden Frauen, die in den 1940ern in Mallard aufwachsen und Zeuge des Lynchmords an ihrem Vater werden, ertragen als 16-Jährige die Enge die Besessenheit der Einwohner von der Hellhäutigkeit nicht mehr. Sie brennen nach New Orleans durch: »Stella wurde weiß, und Desiree heiratete den dunkelsten Mann, den sie finden konnte.«
Ab diesem Zeitpunkt sind alle Personen auf der Suche nach einer »verschwindenden Hälfte« — einem nicht greifbaren Teil ihrer Familien, Identität und Herkunft. So zeigt der Roman, wie wirkmächtig der strukturelle Rassismus in den USA bis in die Gegenwart ist, wie unterschiedlich zwei Leben verlaufen, die zwar am gleichen Ort starten, von der weißen Mehrheitsgesellschaft aber aufgrund ihrer Hautfarben mit unterschiedlichen Blicken, Ressourcen und Möglichkeiten bedacht werden.
Brit Bennett: »Die verschwindende Hälfte«, Rowohlt, 416 Seiten, 22 Euro