Festgefahren

Raser, Gehwegparker, Elterntaxis — das Auto beherrscht in Köln weiter die Straßen. Bringt die Corona-Pandemie die Chance zur Verkehrswende?

Anschwung durch Abstand

Die Coronakrise hat das Mobilitätsverhalten verändert. Jetzt ist die Zeit, daraus eine Verkehrswende zu machen

Wie sich Menschen im Alltag fortbewegen, ist Gewohnheit. Experten und Planerinnen waren sich in der Vergangenheit einig, dass Menschen ihr Mobilitätsverhalten nicht kurzfristig ändern würden. Dann kam Corona — und auf den Gehwegen, Bahnsteigen und Autostraßen war nichts, wie es vorher war. Im ersten Lockdown reduzierte sich das Verkehrsaufkommen insgesamt, vor allem aber fuhren weniger Menschen mit Auto, Bus oder Bahn. In Köln brachen die Fahrgastzahlen der KVB ein, die für einige Wochen sogar ihr Angebot reduzierte. Der PKW-Verkehr ging zeitweise auf 60 Prozent zurück, während der Radverkehr an allen Zählstellen der Stadt anstieg. Auch auf den Gehwegen wurde es voller, viele Menschen entdeckten die eigenen Füße als Fortbewegungsmittel. Und noch etwas entdeckten viele Kölnerinnen und Kölner: Wie es die Stadt verändert, wenn weniger Autos fahren. Plötzlich wirkte Köln geräumiger, es war leiser und die Luft war besser. Der Boom im Radverkehr hält zwar an, doch in der »neuen Normalität« kehren mittlerweile auch viele Menschen in ihre Autos zurück. Das Verkehrsaufkommen auf den Straßen bewegt sich auf Vorjahresniveau. Nicht wenige fürchten in den Wintermonaten gar einen Backlash in die Zeiten der autogerechten Stadt.
Was bleibt dauerhaft davon übrig, dass viele Menschen in den vergangenen Monaten ihre Fortbewegungsgewohnheiten aufgebrochen haben? Können Städte den Schwung mitnehmen, um die Mobilitätswende voranzutreiben? Eröffnet Corona eine Chance für den Verkehr der Zukunft und menschengerechtere Städte?

Ende Juli gab es in Köln knapp 508.000 zugelassene PKW — so viele wie noch nie


Der Deutsche Städtetag, der Städte- und Gemeindebund und der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen haben im September eine gemeinsame Studie veröffentlicht, die sich mit diesen Fragen beschäftigt. Die Antwort trägt das 50-seitige Papier im Titel: »Ein anderer Stadtverkehr ist möglich.« Die Pandemie habe viel Festgefahrenes in Bewegung gebracht und ein neues Bewusstsein für Prio­ritäten geschaffen, schreiben die Autoren. »Ein anderer, zukunftsfähiger Stadtverkehr ist möglich, wenn wir jetzt die Kräfte dafür bündeln — in Kommunen und Verkehrsunternehmen, Bund und Ländern, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.«
Längst scheint man sich einig darüber, welches Ziel Städte bei der Mobilität verfolgen. Die zentrale Rolle spielt dabei, dass Politik und Verwaltungen den sogenannten motorisierten Individualverkehr zurückdrängen wollen. Wachsende Städte können sich mehr erlauben, einem ineffizienten Fortbewegungsmittel den Großteil des öffentlichen Raums zuzugestehen. Wer sich in der Stadt mit dem Auto fortbewegt, beschneidet damit das Leben vieler anderer Menschen. Deshalb möchte man Innenstädte autofrei oder zumindest autoarm gestalten, Autoparkplätze zurückbauen, den Verkehr sicherer gestalten, indem man schwächere Verkehrsteilnehmer besser schützt. Hinzu kommt, dass viele Städte gezwungen sind, die Schadstoffe in ihrer Luft zu reduzieren, und vor der Herausforderung stehen, ihre Innenstädte wieder zu beleben. Stadtzentren fehlt es an Aufenthaltsqualität, der Leerstand nimmt zu. Ein Teil der Lösung ist auch hier die Neuverteilung von Verkehrsflächen.


Für kommunale Politik und Verwaltung scheint das Ziel ausgemacht. Bloß: Den wenigsten Städten ist die Mobilitätswende bisher geglückt. Köln ist dafür ein gutes Beispiel. Mobilität ist ein zentrales Thema der Kölner Kommunalpolitik. Es vergeht keine Sitzung des Stadtrats oder der Bezirksvertretungen, in der nicht über die Verkehrswende debattiert wird. Auch den Kölnerinnen und Kölnern brennt das Thema unter den Nägeln: Laut einer Umfrage von infratest dimap vor der Kommunalwahl im Herbst war der Verkehr für die Befragten das dringendste politische Problem in Köln.


Mit dem Strategiepapier Köln mobil 2025 haben Politik und Verwaltung eine Absichtsbekundung aufgesetzt: Bis zum Jahr 2025 sollen zwei Drittel des gesamten Verkehrsaufkommens dem ÖPNV, Fahrrad- und Fußverkehr zugerechnet werden. Köln ist zwar auf gutem Weg dahin und hätte doch keine Verbesserung erreicht: Die absolute Zahl der Autos auf Kölns Straßen steigt weiterhin permanent. Eine Juli gab es in Köln knapp 508.000 zugelassene PKW — so viele wie noch nie. Hinzu kamen bis zu Beginn der Pandemie immer mehr Menschen, die in die Stadt hinein oder aus der Stadt heraus pendeln.


Während das Problem wächst, verliert sich die Kölner Verkehrspolitik meist in kleinen Maßnahmen. Wenn in der Innenstadt einige hundert Meter der Wälle zur Fahrradstraße umgewandelt werden, schaut Oberbürgermeisterin Henriette Reker persönlich zur Eröffnung vorbei. Wenn an der Ehrenstraße eine Handvoll Parkplätze weggenommen werden, ist das der Stadt eine Pressemitteilung wert. Wenn Polizei und Ordnungsamt auf der Venloer Straße einen »Aktionstag« gegen Falschparker durchführen, lädt man zur Berichterstattung. Derweil zieht sich die vermeintlich fahrrad- und fußgängerfreundliche Umgestaltung der Ringe, vorbereitet durch das Engagement der Initiative Ring frei, nun schon über Jahre. Verkehrswende im Schnecken­tempo, im Stau zwischen Politik und Amts­stuben. Köln möchte seinen Verkehr zwar neu denken, plant aber weiterhin in der Logik des alten Verkehrs. Verbessert hat sich die Situation auf den Straßen in der Zwischenzeit nicht. Man kann sich weder sicher noch effizient von A nach B bewegen.


Corona könnte der Mobilitätswende einen dringend notwendigen Impuls geben. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Städte vor der Herausforderung stehen, ihren Bewohnern im Rahmen des Infektionsschutzes mehr Platz zu schaffen, um Abstand zu halten. Zahlreiche Städte bauten Pop-up-Radwege, sperrten Straßen für Wochenmärkte oder eröffneten neue Spielstraßen. Der Mensch hatte plötzlich Vorfahrt vor dem Auto. Dass die vergangenen Monate der Mobilitätswende zu neuem Schwung verhelfen, könnte eine der wenigen positiven Folgen der Coronazeit werden. Köln muss den Schwung nur noch aufnehmen.

Text: Jan Lüke

 

 

Das Vollgas-VirusViele

Initiativen setzen sich für die Verkehrswende ein. Dennoch ist die Vorherrschaft des Autos ungebrochen. Warum tut sich die Stadt so schwer, das zu ändern?

Früher sei er auch oft Auto gefahren, erzählt Reinhold Goss. »Ja, ja, aber ich habe dann dazugelernt.« Seit mittlerweile fünf Jahren ist Goss einer der führenden Aktivisten für eine Verkehrswende. Auf Goss geht die Initiative »Ring frei!« zurück, deren Ziel es ist, die Kölner Ringe für Fahrrad­fahrer sicherer zu machen — und in der Folge damit auch für Fußgänger. Dass Fahrräder nun auf der Fahrbahn fahren dürfen, dass dort immerhin schon auf vielen Abschnitten Fahrradstreifen markiert worden sind und dass nun durchweg Tempo 30 gilt — das hat Ring frei erreicht.


»Es gab sofort einen Schulterschluss mit den Geschäfts­inhabern an den Ringen«, erinnert sich Goss. »Im Gespräch mit dem ADAC wurde ich auch gefragt, warum wir eigentlich nicht Tempo 20 statt bloß Tempo 30 fordern.« Eine »Neuordnung des Verkehrs«, wie Goss es nennt, werde längst von einer breiten Mehrheit der Menschen befürwortet. »Bloß in Verwaltung und Politik hatten die meisten das irgendwie noch nicht auf dem Schirm.«


Goss kennt ein Mittel dagegen — doch das ist sehr aufwändig: »Wenn man mit Politikern oder Mitarbeitern der Verwaltung mal aufs Rad steigt, dann merke ich schon, dass sich deren Perspektive wandelt«, sagt er. »Die werden dann weicher und nehmen den Verkehr anders wahr als aus dem Auto.«  Überhaupt könne es ja nicht sein, das die Anstöße immer von den Bürgern kämen, sagt Goss. »Daher sind die Verbesserungen auch meist nur punktuell, es gibt kein Gesamtkonzept. Ein paar neue Streifen auf der Fahrbahn, das ist keine Infrastruktur«, sagt Goss. »Die braucht es aber für eine echte Verkehrswende.«

So sieht es auch Thor Zimmermann aus Ehrenfeld. Der Politiker der Wählergruppe GUT sitzt seit 2009 im Stadtrat und engagiert sich unter anderem für eine andere Verkehrspolitik. Viele verkehrspolitische Anträge im Stadtrat kommen von GUT. Einer der Erfolge seiner Wählergruppe  sei die Lastenradförderung, sagt Zimmermann. »Damit ist es uns auch gelungen, dieses Transportmittel im Verkehr sichtbar zu machen.« Aber das sei nicht genug, jetzt brauche es dafür sichere Radwege und auch Abstellflächen.

»Wenn man mit Politikern oder Mitarbeitern der Verwaltung mal aufs Rad steigt, dann merkt man schon, dass sich deren Perspektive wandelt«
Reinhold Goss, Initiative »Ring frei!«


»Mental hat sich auch bei der Stadtverwaltung schon etwas verändert«, meint Zimmermann. »Aber davon sieht man in der Praxis dann kaum etwas.« So sei etwa in der Straßenverkehrsordnung vorgeschrieben, dass Autofahrer beim Überholen von Radfahrern 1 Meter 50 Abstand halten müssen. »Das ist in Köln aber ohne bauliche Veränderungen auf vielen Straßen kaum möglich. Man müsste dann etwa auch auf ­großen Straßen eine Autospur wegnehmen — das geht denen zu weit.«


Was Zimmermann ärgert: »Es wäre unter den gegebenen Umständen fast gefährlich, alle aufs Rad zu bringen. Ist es etwa einer nicht routinierten Fahrradfahrerin wie der Oberbürgermeisterin zuzumuten, auf der Luxemburger Straße zu fahren? Ich denke, nein. Das wäre viel zu gefährlich.«


Aber Zimmermann hält nichts davon, Radfahrer als die besseren Verkehrsteilnehmer hinzustellen. »Das ist keine homogene Gruppe, da gibt es auch die Kampfradler, denen es nur auf Tempo ankommt. Dass es auch die gibt, sollte man nicht tabuisieren.« Zimmermann sieht in der hohen Geschwindigkeit ein Grundübel im Verkehr. »Mir geht es nicht darum, schnell ans Ziel zu kommen, sondern sicher, und das auch ohne Umwege«, sagt Zimmermann. »Das politische Ziel ist es, die Leute vom Auto aufs Rad zu bringen, und dass sie nicht totgefahren werden von ihren Ex-Kollegen in den Autos.«

»Ist es einer nicht routinierten Fahrradfahrerin wie der Oberbürgermeisterin zuzumuten, auf der Luxemburger Straße zu fahren? Ich denke, nein«
Thor Zimmermann, Wählergruppe GUT


Es gebe ein Muster bei den »sozioökonomischen Rahmendaten« von Rasern, die sich Autorennen auf den Straßen liefern oder allein mit Vollgas durch Wohngebiete fahren, sagt Jürgen Berg. Der Hauptkommissar leitet den »Einsatztrupp Verkehr/Rennen«, eine eigens eingerichtete Dienststelle im Polizeipräsidium Köln, um illegale Autorennen mit den oft tödlichen Folgen für Fahrer und Unbeteiligte zu verhindern und zu ahnden. »Der typische Raser gehört gewöhnlich nicht der sozialen Oberschicht an, wohnt oft noch in der elterlichen Gemeinschaft und verfügt nur über ein geringes Einkommen«, sagt Berg. »Den vielfach fehlenden beruflichen Erfolg oder die als unbefriedigend wahrgenommene Position innerhalb des sozialen Umfeldes versucht er auszugleichen, indem er sich Anerkennung und Achtung über das Auto holt.« Das Gaspedal diene als Ventil, um Druck abzulassen. »Und dann wird Gas gegeben. Rücksichtslos. Sie haben die Illusion, die Situation zu beherrschen, und blenden die Risiken aus«, so Hauptkommissar Berg.


Die Erfolgreichen fahren also teure Lastenräder und die Frustrierten getunte Sportwagen? Wie kann man da illegale Autorennen verhindern? »In der Vergangenheit wurden beispielsweise eine Art Gefährderbriefe an bereits auffällig gewordene Raser und Poser versandt«, sagt Berg. »Darüber hinaus versuchen wir, die Kommunikation über die einschlägigen sozialen Netzwerke zu nutzen und über die Gefährlichkeit des Tuns zu informieren.« Ob das aber etwas nutzt, weiß auch Berg noch nicht. Dafür müsse man erst die Zahlen abwarten. In den vergangenen drei Jahren seien sie konstant geblieben. Im Nachhinein scheint es oft auch schwierig zu sein, die Täter angemessen zu bestrafen. »Aus diesem Grunde erprobt die Polizei Köln ständig neue Dokumentations- und Beweissicherungsmethoden«, so Berg. Dass es während des ersten Corona-Shutdowns mehr Rennen gegeben habe, wie teilweise in der Presse zu lesen war, kann Berg nicht bestätigen. Bräuchte es da nicht auch einen Einsatztrupp für die weniger spektakulären, aber dafür weit verbreiteten Geschwindigkeitsübertretungen? Denn auch mit 50 km/h durch eine Tempo-30-Zone zu fahren, ist eine massive Geschwindigkeitsübertretung und gefährdet schwächere Verkehrsteilnehmer. Während der Anhalteweg bei 30 km/h bei etwa 18 Metern liegt, beträgt er bei 50 km/h bereits mehr als das Doppelte. 

Während das Tempo auf den Straßen also zu hoch ist, ist es in der Stadtverwaltung und der Politik zu langsam. »Das dauert alles zu lange«, findet Zimmermann und drückt damit aus, was viele empfinden. Aber OB Reker und ihre Verkehrsdezernentin Andrea Blome lebten die Verkehrswende auch nicht vor, so der Ratspolitiker. Es gebe noch nicht mal eine breit angelegte Kampagne dafür, aufs Rad umzusteigen.
»Es reicht auch nicht, Tempo-30 Schilder aufzustellen oder mit einem Eimer Farbe ein paar Linien auf die Straße zu malen, damit es sicherer wird«, sagt Zimmermann. »Die Fahrradspuren etwa müssen getrennt vom Autoverkehr sein, sie müssen mit allem Drum und Dran markiert werden — nicht dort, wo die Stadt denkt, dass es unbedingt notwendig sei.«


Für Thor Zimmermann hat die Verkehrssituation während des Shutdowns im Frühjahr kaum Hoffnungen geweckt, dass dadurch ein Umdenken eingeleitet würde. Nein, sagt Zimmermann, im Shutdown seien kaum Menschen vom Auto aufs Rad umgestiegen. Sie hätten vielmehr das Auto stehen gelassen, weil sie im Homeoffice arbeiteten. »Ich kann darin kein utopisches Moment erkennen«, sagt Zimmermann. »Der Erkenntnisgewinn für mich besteht allenfalls darin, zu sehen, dass diejenigen, die KVB fahren, offenbar kein Auto haben. Nur weil es ihnen wegen Corona zu heikel in den Bussen und Bahnen ist, steigen sie aufs Rad um.«


Zimmermann ist mit der KVB in diesem Punkt nicht zufrieden. Weder seien in allen Bussen und Bahnen die Fenster geöffnet, noch gebe es dort Desinfektionsmöglichkeiten. »Mehr als den Appell, einen Atemschutz aufzusetzen, kann ich bei der KVB derzeit nichterkennen.« Ein attraktiver Nahverkehr aber sei eine wichtige Bedingung für eine echte Verkehrswende.


Reinhold Goss von Ring frei sieht viel Zuspruch für die Verkehrswende vor allem in der Innenstadt und den angrenzenden Veedeln. In Ehrenfeld oder Nippes, sagt Goss, reiche es allmählich schon nicht mehr, bloß ein Lasten­fahrrad zu fahren, um seinen Status anzuzeigen. Es müsse mittlerweile auch die angesagte Marke sein, witzelt er. Aber solche Entwicklungen sind am Stadtrand bislang nicht auszumachen. »Hier wird das Auto noch gelebt«, sagt Goss. Wie lässt sich das ändern? Natürlich müssten die KVB-Verbindungen besser werden, er gibt aber auch zu bedenken, dass gut zwei Drittel des Autoverkehrs in Köln Durchgangsverkehr seien. Während des ersten Corona-Shutdowns im Frühjahr habe man das gemerkt. »Die Pendlerverkehre mit dem Auto durch die Stadt waren plötzlich weg, deshalb war es auf den Straßen vor allem so ruhig.«


Immerhin hat Köln die Corona-Pandemie zum Anlass genommen, hier und da eine Maßnahme vorzuziehen und Fußgängern und Radfahrern etwas mehr Raum zu geben. Auf der Ehrenstraße etwa durften seit April samstags keine Autos mehr parken, damit sich die Passanten beim Shopping nicht auf die Füße treten. Im November fielen die Parkplätze schließlich komplett weg. Auch ein Teil des Eigelsteins wurde früher als geplant zur Fußgängerzone erklärt, wenn auch zunächst nur auf einem Abschnitt von etwa 70 Metern.
Auch in der Altstadt wurden einige Parkplätze weggenommen, eine zaghafte Annäherung an die Vision einer autofreien Altstadt, die in anderen Städten längst Realität ist. Dann und wann entstehen neue Fahrradstraßen, Ehren­feld plant ein neues Radverkehrskonzept. Während man dort zumindest erahnen kann, was mit »Verkehrswende« gemeint sein könnte, hat sich in vielen Außenbezirken kaum etwas geändert.

In Alt-Niehl ist Köln noch Dorf: kleine Backsteinhäuser, schma­le Gehwege. Wer mit Bernd Valjeur die Sebastianstraße entlang geht, muss alle paar Meter stehen bleiben und ein Schwätzchen halten. Man kennt sich, und erst recht kennt man Valjeur, den Vorsitzenden des Niehler Bürger­vereins. Bloß: Zum gemütlichen Plausch fehlt hier der Platz, erst recht, wenn man den in der Pandemie gebotenen Mindestabstand einhalten will. »Es gibt hier zu wenig Platz für alle: Fußgänger, Rad- und Autofahrer.«

 

»Vielen Eltern ist nicht klar, wie sehr das Auto dem Menschen überlegen ist, und was sie damit anrichten können«
Isabell Paustian, Initiative »Niehl fährt sicher«


Valjeur steht vor der Post und deutet Richtung Süden: Parkende Autos auf dem Gehweg, soweit das Auge recht. »Die dürften hier alle gar nicht stehen.« Er vermisst den Gehweg mit Schritten: »Das ist ein guter Meter, höchstens eins zwanzig.« Vorgeschrieben sind in Außenbezirken aber mindestens 1,50 Meter. Die Geschäfte an der Sebastianstraße klagen über mangelnde Kundschaft — zum gemütlichen Einkaufsbummel im Veedel laden die zugeparkten Gehwege aber kaum ein. Wer ein Rad dabei hat, kann es vor den Geschäften nirgendwo abstellen. »Das Gehwegparken wird konsequent geahndet«, heißt es bei der Stadt. Es habe »an vielen Stellen der Stadt überhandgenommen, sodass auf Gehwegen kein Platz mehr blieb für Eltern mit Kinderwagen oder Rollstuhlfahrende.«


Valjeur würde hier aber nur dem zweiten Teil zustimmen. Tatsächlich ist das zuständige Ordnungsamt offenbar gar nicht ausreichend besetzt, um all den Gehwegparkern ein Knöllchen an die Windschutzscheibe zu klemmen. Und selbst wenn Valjeur die Mitarbeiter persönlich an die Sebastianstraße rief, wollten sie seine Aufregung nicht immer teilen: Die Fußgänger kämen doch trotzdem noch durch, hieß es. Bernd Valjeur lächelt gequält. »Klar, auch ein Kinderwagen oder Rollator passt hier irgendwie noch durch. Aber wehe, es kommt jemand entgegen, dann muss einer zwischen die geparkten Autos ausweichen.« Auch die Anwohner, wenngleich genervt von den Gehwegparkern, bremsten Valjeur oft aus: »Die sagen: Lass die bloß da stehen, sonst haben die Autos mehr Platz zum Rasen.«


Rasen — das ist das andere Problem, das Niehl mit vielen Dörfern gemeinsam hat. In fast ganz Alt-Niehl gilt zwar Tempo 30, Anwohner und Bürgerverein haben lange dafür gekämpft. »Aber die meisten scheren die Schilder überhaupt nicht«, berichtet Valjeur. Es seien beileibe nicht nur jugendliche Raser, die ihren Sportwagen vorführen wollten. »Es sind die Ford’ler auf dem Weg zur Arbeit, es sind Anwohner. Eltern, die ihr Kind zur Schule bringen.« Die Kölner Polizeistatistik bestätigt sein Gefühl: Rasen ist Alltag. Bei Geschwindigkeitsmessungen in Kölner Tempo-30-Zonen war im Jahr 2020 fast jedes zehnte Auto mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs. Meist blieb es jedoch bei Warngeldern. Valjeur beklagt, dass die alltäglichen Geschwindigkeitsübertretungen nur selten geahndet würden. Eine Polizeikontrolle sehe er nur zwei- bis dreimal im Jahr.


Die für Niehl zuständige Bezirksvertretung Nippes hat schon 2015 beschlossen, die Parkplatzsituation auf der Sebastianstraße zu »ordnen« und zu prüfen, ob man das »Shared-Space-Prinzip« einführen könne — eine Verkehrsordnung also, bei der die Dominanz des Autos gebrochen wird und alle Teilnehmer gleichberechtigt und entsprechend langsam unterwegs sind. Passiert ist bislang nichts. Die Sebastianstraße stehe derzeit nicht auf der Prioritätenliste, teilte die Verwaltung im vergangenen Jahr mit. Man könne auch »keinen konkreten Zeitablauf für die weitere Projektbearbeitung« nennen. Doch der Druck in Niehl wächst.


Im April 2019 fuhr ein Junge auf dem Schulweg mit dem Roller über den Zebrastreifen, als er von einem Auto erfasst wurde. »Er flog drei Meter weit«, erzählt Isabell Paustian. Sie steht an der Unfallstelle in der Hermesgasse, nur etwa 150 Meter von der Grundschule entfernt, wo ihr Kind dieselbe Klasse wie das Unfallopfer besucht. Der Junge erholte sich von seinen inneren Verletzungen. »Aber er leidet bis heute unter den Folgen«, so Paustian. Erst seit wenigen Wochen, anderthalb Jahre nach dem Unfall, traue er sich wieder, allein zur Schule zu gehen. An der Unfallstelle gilt Tempo 30, wie überall in Alt-Niehl. »Es heißt, die Fahrerin habe mehr als 50 Stundenkilometer drauf gehabt.« Ein Gericht verurteilte die Frau zu 1800 Euro Schmerzensgeld. Ein Fahrverbot bekam sie nicht.

 

»Es ist absurd: Weil Autos illegal parken, müssen die Fuß­gän­ge­r entweder in der Schlange ­warten oder auf die Straße ausweichen«
Astrid Raimann, Initiative »Freie Wege Dellbrück«


Der Unfall versetzte die Eltern an der Grundschule in Aufruhr. Paustian und andere Eltern gründeten die Initiative »Niehl fährt sicher«. Sie wollen, dass sich beim Thema Verkehr in ihrem Veedel endlich was tut. Dabei schrecken sie auch vor einem heiklen Thema nicht zurück. Es ist ein Pro­blem, das die Eltern selbst verursachen, wenn sie ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringen und abholen: Um den eigenen Kindern maximale Sicherheit zu bieten, gefährden sie die anderen, die zu Fuß kommen. »Zu Schulbeginn spielen sich hier abenteuerliche Szenen ab«, so Paustian. »Da wird mit dem Auto in die Sackgasse gefahren, rangiert, mit laufendem Motor vor dem Schultor gehalten.« All das ist eigentlich verboten, vor der Schule herrscht absolutes Halteverbot. Kontrolliert werde das aber kaum, so Paustian. Während sie erzählt, rollt die Nachmittagsschicht der Elterntaxis an. Eine junge Frau stellt ihr Auto auf dem Gehweg ab und läuft zum Schultor, wenig später parken zwei Autos vor dem Wegekreuz an der Schule, um im Wagen auf ihre Kinder zu warten. Heute seien vergleichsweise wenig Elterntaxis gekommen, sagt Paustian. »Vielleicht hat unsere Aktion doch etwas gebracht.« Im Oktober stellten Eltern aus der Initiative mit Schülern und Anwohnern eine Woche lang um acht Uhr morgens rund um die Schule Liegestühle auf, malten mit Kreide Halteverbotszonen auf die Straße und sprachen die elterlichen Chauffeure auf das Problem an. »Vielen Eltern ist nicht klar, wie sehr das Auto dem Menschen überlegen ist, und was sie damit anrichten können.«


Die Reaktion fiel gemischt aus: Manche zeigten Einsicht, andere wiederum sahen kein Problem, man wolle doch »nur schnell« das Kind bringen. Johannes Köper ist seit zehn Jahren Leiter der Grundschule an der Halfengasse, und ebenso lang fleht er in jedem einzelnen Elternbrief, die Kinder doch zu Fuß zur Schule zu bringen oder allein gehen zu lassen. Mit mäßigem Erfolg. »Für viele Eltern ist es offenbar ein Stressfaktor, wenn sie nicht beobachten können, wie ihr Kind im Schultor verschwindet.« Sogar Knöllchen nähmen die Eltern dafür in Kauf. Auf direkte Ansprache reagierten sie teils heftig. »Bei dem Thema kochen die Emotionen schnell hoch, viele fühlen sich bevormundet.« Verkehrserziehung spiele eine große Rolle in der Grundschule, sagt Köper. Die Schüler lernten viele Verhaltensvorgaben. »Aber dann müssen sich auch die anderen Verkehrsteilnehmer an die Vorgaben halten.«


Bei Kontrollen zum Schulbeginn im August wurden an 32 Standorten entlang von Schulwegen über zwei Wochen fast 26.000 Geschwindigkeitsmessungen durchgeführt. In 1441 Fällen wurde nach Angaben der Stadt Köln die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. An der Kaesenstraße in der Nähe des Volksgartens war sogar fast jedes vierte Fahrzeug zu schnell.


Schulleiter Köper aus Niehl glaubt inzwischen nicht mehr daran, dass sich nur durch Bitten oder vereinzelte Kontrollen etwas ändert. Er plädiert dafür, die Straßen rund um Grundschulen komplett für den Autoverkehr zu sperren. »Oder es muss zumindest Aufpflasterungen geben, so dass es richtig ruckelt.«


Auch im rechtsrheinischen Dellbrück begehren Anwohner gegen die Dominanz des Autos auf. »Die Situation ist vor allem für Kinder und Senioren lebensgefährlich«, sagt Astrid Raimann. Ende 2019 stieß sie die Initiative »Freie Wege Dellbrück« mit einem Post in einem Nachbarschaftsnetzwerk an. Vor allem stört sie sich an den Gehwegparkern an der Dellbrücker Hauptstraße, einer viel befahrenen Einkaufsmeile im Viertel, die wie in Niehl verbotenerweise auf dem Bürgersteig stehen.


Auf der Hauptstraße im »Lindenthal der Schäl Sick« hat sich die Lage durch die Corona-Pandemie auf dem ohnehin schmalen Gehweg zugespitzt: »Es ist absurd: Weil Autos illegal parken, müssen die Fußgänger entweder in der Schlange warten, um durchzukommen, oder auf die Straße ausweichen«, sagt die 72-Jährige. Dabei müsse man doch umgekehrt den öffentlichen Raum nach den schwächsten Verkehrsteilnehmern ausrichten. Auch sei die Haltung der Autofahrer in den vergangenen Jahren deutlich aggressiver geworden. »Die wollen am liebsten direkt im Geschäft parken«, schimpft Raimann. Demnächst möchte die Initiative eine Bürgerbefragung starten. Ob die Dellbrücker Hauptstraße nun Fußgängerzone werde, teilgesperrt oder ein verkehrsberuhigter shared space, egal: »Es muss etwas passieren«, so Raimann. Sie selbst hat ihr Auto vor drei Jahren abgeschafft. »Köln hängt total hinterher. Als Grund wird die dichte Bebauung genannt.« Aber in Amsterdam gehe es doch auch. »Das ist eine Frage des Wollens«, findet Raimann.


Sie und ihre Mitstreiter haben Briefe an den Bezirksbürgermeister, die Oberbürgermeisterin, das Ordnungsamt und Verkehrsdezernat geschrieben. Gehört fühlen sie sich nicht. »Als Antwort auf ein grundsätzliches Problem sagte Frau Reker: Am besten alle unnötigen Wege in der Pandemie vermeiden.« Raimann kann es kaum glauben: »Fußgänger sollen zu Hause bleiben, damit Autos auf den Gehwegen stehen bleiben können?« Von der Verwaltung fühlt sie sich nicht ernstgenommen.

Auch Gunda Wienke stellt der Stadt ein schlechtes Zeugnis aus. Sie ist ein Hans-Dampf in den Gassen der Verkehrspolitik. Seit 2014 sitzt sie als sachkundige Bürgerin für die Linke im Verkehrsausschuss, unterstützt Ring frei, hat die Ortsgruppe »Fuß e. v.« ins Leben gerufen und unter anderem das Bündnis »Oben bleiben« mitbegründet, das sich gegen einen weiteren U-Bahn-Tunnel und für eine oberirdische Planung der Ost-West-Achse einsetzt.

 

»Nicht Tempo 30 sollte begründet werden, sondern Tempo 50«
Gunda Wienke, Die Linke


»Wenn meine Kinder alleine mit dem Fahrrad unterwegs sind, habe ich oft ein mulmiges Gefühl«, sagt Wienke, die sich fast ausschließlich mit dem Fahrrad oder zu Fuß bewegt. »Wenn die Stadt es ernst meint mit der Verkehrswende, muss dringend etwas passieren«, stellt sie fest. Gunda Wienke meint es ernst: Sie hat sich als Anwohnerin der Ringe an einer Lärmklage beteiligt. Ihrer Klage wurde stattgegeben. Jetzt steht ein Tempo-30-Schild vor ihrer Haustür. »Ein Witz«, wie sie findet. »Die Erftstraße entlang des Mediaparks ist eine hoch frequentierte Einfallstraße. Dort wäre Tempo 30 sinnvoll, nicht in der 80 Meter langen Stichstraße, in der ich wohne.« Gunda Wienke fordert stadtweit Tempo 30. »Nicht Tempo 30 sollte begründet werden, sondern Tempo 50.«


Damit es endlich vorangeht, plädiert Reinhold Goss von Ring frei für eine »Verkehrspolitik mit Zuckerbrot und Peitsche«. Der Umstieg auf Fahrrad oder KVB müsse attraktiver, aber etwa Gehwegparken tatsächlich auch geahndet werden. Der Autoverkehr müsse konsequent zurückdrängt werden, damit die Straßen wieder Aufenthaltsqualität bekommen — so wie es Ring frei auf den Kölner Ringen vorsieht. »Es fehlt ein Kataster«, sagt Goss. »Wir müssten genau wissen, wo Parkplätze sind und wo man sie überall wegnehmen kann, damit die Menschen sofort ins Parkhaus oder Tiefgarage fahren und der Raum den Fußgänger zugeschlagen werden kann. Der städtische Raum wird noch immer zu sehr aus der Sicht von Autofahrern betrachtet.« Insgesamt benötige Köln »mehr Lust, die Stadt zu verändern und auch mehr Experimentierfreude«, findet Goss. Sobald man dann etwas verändert habe, das sei seine Erfahrung, könnten sich viele Menschen gar nicht mehr vorstellen, dass es überhaupt mal anders war. »Die sagen dann: Was? Dort haben früher die Autos geparkt? Unglaublich!«

Text: Anja Albert, Anne Meyer