Der Widerstand des Erinnerns
Das Erinnern ist Teil unserer Identität. Ohne Erinnerungen sind wir identitätslos. Wie eine Welt aussehen könnte, in der die Dinge einfach aus dem Gedächtnis der Menschen verschwinden, beschreibt die japanische Autorin Yoko Ogawa in ihrem Bestsellerroman »Insel der verlorenen Erinnerung«. Ihre Heldin ist eine Schriftstellerin, die gegen das Vergessen anschreibt.
Diese kollektive Amnesie ist im Roman das Resultat eines totalitären Überwachungsstaates. Regelmäßig verschwinden auf der namenlosen Insel Gegenstände aus der Erinnerung: Vögel, Fotografien, Rosen, Kalender. Die Dinge werden vom Fluss aufs Meer getrieben oder von den Menschen verbrannt, und mit ihnen verlieren auch die Worte ihre Bedeutungen. Nur wenigen Inselbewohnern bleibt die Erinnerung — so wie der Mutter der Protagonistin, die dafür bereits vor
Jahren vom Regime verhaftet und wahrscheinlich ermordet worden ist. »Gen-Ingenieure« und eine »Erinnerungspolizei« verfolgen und verschleppen die Erinnernden, zu denen auch der Lektor der jungen Schriftstellerin gehört.
Mithilfe eines befreundeten alten Mannes versteckt sie ihn in einem kleinen unterirdischen Raum ihres Hauses, der zum symbolischen Ort des Widerspruchs zwischen Freiheit und Begrenzung, Archivierung und Auflösung der Erinnerung wird. Dem Verschwinden der Erinnerungen versucht Ogawas Protagonistin sich mit der Arbeit an einem Roman über eine verstummte Stenotypistin zu widersetzen, doch: »Ich fragte mich, was wäre, wenn eines Tages die Wörter verschwinden würden. Aber nur im Stillen. Weil etwas wahr werden kann, sobald man es laut ausspricht.«
Immer wieder hat Ogawa auf »Das Tagebuch der Anne Frank« als Anlass ihres Schreibens verwiesen. Aber in keinem ihrer Werke ist das Erinnern und Vergessen unter dem Einfluss politischer Gewaltherrschaft so gegenwärtig wie in diesem. Bereits 1994 im Original und in diesem Jahr erstmals auf Deutsch erschienenen, besteht die Zeitlosigkeit des Romans in den historischen Bildern autoritärer Regime: Verfolgung, Flucht, Deportation, Repression und Adaption des Systems bis hin zur völligen Selbstaufgabe: »Die Menschen hatten ihre Gestalt vollends verloren. Allein ihre Stimmen schwebten noch ziellos herum.«
Ogawas fast dreißig Jahre alter Roman zeichnet eine furchterregende Dystopie, deren Netzwerk flüchtiger Bedeutungen und zunehmender Entfremdung erschreckend aktuell erscheint und in einer Zeit digitaler Gedächtnisspeicher ein Plädoyer für die Erinnerungskraft von Literatur ist.
Yoko Ogawa: »Insel der verlorenen Erinnerung«, Liebeskind, 352 Seiten, 22 Euro