Typisch deutsch: Stinkekäse unterm Pult
Holgi Schubert war keine Petze, und ich trug einen Nicki, der kratzte. Holgi Schubert war Klassensprecher der 5d. Mit der Selbstzufriedenheit populistischer Potentaten versah er sein Amt. Wer hatte Holgi Schubert gewählt? Hatte er sich Stimmen mit Sauren Pommes am Hausmeisterbüdchen erkauft? Man wird leicht zum Mitläufer.
Das Hobby von uns Schülern der 5d hieß nicht Dritte-Welt-AG oder Projektwoche Umweltbildung, es hieß: Scheißebauen. Versaute Zeichnungen im Klassenbuch, Stinkekäse unterm Lehrerpult — wir waren wie Hanni & Nanni, nur radikaler! Die Delikte orchestrierte Holgi Schubert — ein Schurke im höchsten Amt, das die 5d zu vergeben hatte. Als Holgi das Klo im Physiktrakt zerlegte, wurde es eng. Iris Holme, Klassenbeste und Amtsvorgängerin, wollte ihm endlich das Handwerk legen. Sie suchte Zeugen, unterhielt beste Kontakte zu Klassenlehrerin Dr. Steigen-Klammnitz! Da sprach Holgi: »Kein Sterbenswörtchen zu irgendwem, sonst ...« Wir gehorchten. Auch Ganoven haben ihren Ehrenkodex: Man petzt nicht. Es ist eine Auffassung, die in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Vieles aus dem Untergrund wird ja irgendwann Mainstream. Grünkohl-Smoothies zum Beispiel.
Man sagt heute aber nicht Petze, sondern Denunziant. »Der größte Lump im ganzen Land/ Das ist und bleibt der Denunziant«, — der Spruch wird Hoffmann von Fallersleben zugeschrieben, der heute auch keine Nationalhymne mehr schreiben dürfte. Es gibt dunkle Stellen in seiner Biographie. Was macht ein Denunziant? Er zeigt Leute an, die sich nicht an Gesetze halten – vorrangig, um daraus persönlich Kapital zu schlagen. Aber kann man Beweggründe und Sachverhalt nicht auch trennen? Wenn ich ein Mineralölunternehmen öffentlich anprangere, die Umwelt zu verpesten, um mein Bild in der Zeitung zu sehen — ist das dann falsch? Oder beweise ich Zivilcourage, bin »unerschrocken«? Oder ist es bei einer Umweltverpestung angebracht, aber nicht, wenn jemand ein Kind schlägt, ein Fahrrad klaut, ein Auto anzündet? Wo verläuft die Grenze zwischen Courage und blindem Eifer?
Atze und Pit, die immer mit ihren Hunden vor Trinkhalle Hirmsel herumsitzen, sagen: »Ganz einfach: Die Bösen darf man verpetzen, die Guten nicht.« Mir hilft das nicht weiter, wenn ich mit Oma Porz in der Supermarktschlange stehe und aufgekratzte Menschen ohne Atemschutz hinter uns drängeln. Was tun? Den Filialleiter rufen? Das Gespräch suchen? Ich habe gute Argumente und die Wissenschaft auf meiner Seite, aber wer alle Hinweisschilder missachtet, hat sich längst entschieden, »sich nichts sagen zu lassen«. Einmal hab ich mich beschwert, da bekam ich zur Antwort, das sei »typisch deutsch«. Ist es wirklich typisch deutsch, einen Corona-Atemschutz zu tragen? Oder ist es typisch deutsch, dagegen zu rebellieren? Ich glaube, es ist typisch deutsch, »typisch deutsch« zu sagen. Überhaupt, man kommt mit Zuschreibungen nicht weiter in dieser moralischen Bredouille.
Holgi überstand unbeschadet seine Amtszeit, weil niemand als Petze gelten wollte. Dann wurde wieder Iris Holme Klassensprecherin, weil alle Jungs in sie verliebt waren und die Mädchen ihre Freundin sein wollten. Wenn Iris Holme mit Atemschutz in die Klasse gekommen wäre, wir wären ihr gefolgt! Heute leitet Iris Holme erfolgreich einen Sanitärfachmarkt. Von Holgi Schubert verliert sich jede Spur nach der Schule, vielleicht sitzt er im Gefängnis oder ist bei den Reichsbürgern. Vielleicht hat er auch nach der Heirat den Namen seiner Frau angenommen und arbeitet für NGOs in Krisengebieten, Menschen können sich ändern. Manche sehen sogar irgendwann ein, dass man einen Corona-Atemschutz tragen sollte.