Hybride Realitäten
c/o pop, Sónar, Mutek, Reeperbahn Festival: So unterschiedlich die künstlerische Ausrichtung dieser Musikfestivals auch ist, sie alle eint, dass sie sich im xten Jahr ihrer Existenz nochmals neu erfinden mussten — für das Publikum, die Künstler*innen und auch für sich selbst. Die Zukunft ist unsicher, aber immerhin: Noch gibt es eine. Wir haben die Protagonisten nach ihren Erfahrungen aus diesem Jahr und den Erwartungen für die Zukunft befragt.
»Mit der Umsetzung der Präsenz-Angebote haben wir bewiesen, dass Veranstaltungen unter akribischer Berücksichtigung der Abstands- und Hygiene-Regeln und mit der Möglichkeit der personalisierten Nachverfolgung bei Bedarf keine unsicheren Orte in der Pandemie sind, als viele andere Lebensbereiche«, beginnt Alexander Schulz, Gründer und Geschäftsführer des Reeperbahn Festivals mit nüchternen Worten seinen Rückblick auf die 15. Auflage seines Festivals.
Was ein besonders euphorisches Jubiläum hätte werden sollen, war lange ein wilder Ritt auf unsicheren Terrain — und habe sich fast wie die Premiere 2006 angefühlt. Nicht immer leicht, aber im Nachgang umso sinnstiftender. Nun sei die Politik an der Reihe, den Ball aufzunehmen, sagt Schulz: »Wir konnten unseren Beitrag leisten, die vorherrschende Stigmatisierung zu entkräften. Und wir haben auch deutlich gemacht, dass Pandemie gerechte Umsetzungen von Veranstaltungen einen erheblichen Unterstützungsbedarf der öffentlichen Hand benötigen, die nun endlich bereitgestellt werden müssen.«
Wobei Schulz betont, dass sie beim Reeperbahn Festival sich gut unterstützt gefühlt hätten. Eine Einschätzung, die er mit den Kolleg*innen von Mutek, Sónar und c/o pop teilt. Alain Mongeau vom Mutek hebt zudem die Bedeutung dieser Unterstützungen für die Festivaleigenen Strukturen hervor: »Es gelang, zusätzliche Notunterstützung zu generieren, so dass niemand entlassen werden musste.«
Das Jahr habe sich wie eine »Achterbahnfahrt« angefühlt, bringt es Ralph Christoph, der Director der c/o pop Convention auf den Punkt: »Frust und Enttäuschung zu Beginn der Pandemie und der damit verbundenen Absage von Festival und Convention zum ursprünglich geplanten Termin Ende April; dann die Jetzt-erst-recht-Phase mit den ersten tapsigen Schritten in die Zoom- und Solidaritäts-Streaming-Welt; dann die Phase der Unsicherheit wie es weitergehen soll und kann; und schließlich die hochproduktive Phase, in der wir die xoxo Ausgabe geplant und umgesetzt haben.« Mit xoxo hat die c/o pop einen eingängigen Slogan gefunden für die neue Hybridität, die die Festivals im Jahr 2020 auszeichnet: echte Veranstaltungen vor (drastisch reduziertem) Publikum und digitale Formate. Der Weg hin zu diesen zwei inhaltlichen Pfeilern war bei weitem kein leichter. Nicht zuletzt, da plötzlich die ganze Welt zur Senderin wurde. Kaum fielen im März die ersten Lockdown-Klappen und setzte damit die Erkenntnis eines Jahres mit Corona ein, schien das Internet noch voller als sonst, kamen einem aus allen Newslettern und Social-Media-Posts Links zu Streams von Konzerten, DJs-Sets, Panels und Workshops entgegen.
Für ein Festival bringt das mit sich, dass das, was gut gemeint ist — den Künstler*innen und dem Team weiterhin eine sozial-ökonomische Perspektive zu bieten — auch leicht in einen Zustand des Nicht-Wahrgenommen-Werdens kontraproduktiv kippen kann. Deswegen sei es so wichtig gewesen, dass das »Substitut für das ausgefallen Festival und die Convention nicht aus Zoom-Talks und Wohnzimmerkonzerten besteht«, merkt Ralph Christoph an.
Noch mehr als die Festivalmacher*innen waren und sind die Musiker*innen selbst gefragt. Denn letztlich sind sie es, die die Besucher*innen mit ihren digitalen Auftritten anlocken. Für Enric Palau, der für das Booking beim Sónar Festival in Barcelona, dem führenden Festival für elektronische Musik, zuständig ist, durchaus ein positiver Impuls: »Es lag auch eine Chance darin, zu überlegen, wie man den Raum nutzen konnte, wenn es keine Zuschauer geben darf.« Er hebt besonders die Sets der Lokalmatadoren John Talabot’s (mit 360º Visuals von Desilence) und Arca (mit Visuals von Max Cooper’s) hervor. Für das Sónar war die Situation besonders zugespitzt, da Spanien im Frühjahr und bis heute sehr stark von Corona getroffen wurde, was zu einem harten Lockdown geführt hat und zu sehr unberechenbaren Entwicklungen. Als Reaktion auf die Brutalität, mit der die Pandemie das öffentliche Leben in Spanien lahmgelegt hat, wurde das »eigentliche‹ Sónar Festival auf 2021 verlegt. Da man aber nicht aufgeben wollte, setzte man für den September eine explizit hybride Sónar+Edition an. Eine Entscheidung, die künstlerisch aufging, wie man sich auf dem Youtube Kanal nun retrospektiv sehen kann.
Auffällig sind hierbei die vielen spanischen Künstler*innen. »Es war uns ein wichtiges Anliegen, die lokalen Strukturen in den Fokus zu rücken, da die vielen Musiker*innen in Barcelona und Umgebung sehr unter der Pandemie zu leiden haben.« In Kooperation mit DublabBCN entstand so täglich ein zwölf Stunden langer Livestream. Das Repertoire an internationalen Künstler*innen wurde parallel drastisch reduziert, den Auftritten von Nicola Cruz (von Quito aus), Daito Manabe (von Tokyo aus) und Holly Herndon sowie Richie Hawtin (von Berlin aus) kam eine Satelliten-Rolle zu.
Die Rahmenbedingungen des Sónar sind mit jenen des Mutek Festivals in Montreal vergleichbar. Die Hauptstadt von Quebec und Umgebung wurden ebenfalls extrem heftig von der Pandemie getroffen — die Region verzeichnete etwa die Hälfte aller Fälle in Kanada. »Über den Sommer wurde die Situation zwar entspannter, aber uns war trotzdem früh klar, dass es kein normales Mutek in diesem Jahr geben kann, allein schon da die Grenzen geschlossen blieben und wir so keine internationalen Künstler*innen einfliegen konnten«, kommentiert Alain Mongeau, Gründer und künstlerische Leiter des Mutek.
Die zentrale Frage sei es gewesen, wie man »den Spirit und die Qualitätsdichte des eigentlichen Festivals in ein hybrides, primär von den meisten Menschen digital wahrgenommenes Festival überführen kann«. Keine kleine Herausforderung, zumal das Team dabei unter sehr ungewöhnlichen Rahmenbedingungen zu agieren lernen musste. »Den Großteil des Sommers habe ich ungefähr neunzig Minuten außerhalb Montréal verbracht und von dort gearbeitet. Das Festival im September war zugleich meine Rückkehr in die Urbanität und zu den Menschen.«
Doch auch ab da war natürlich nichts wie sonst. Es sei nicht leicht gewesen, ein Gefühl für das Festival zu entwickeln, wenn man statt im gleichen Hotel wie die Künstler*innen unterzukommen und somit in permanenten Austausch zu stehen von Zuhause aus die Geschicke leitet. »Den Großteil des Tages habe ich in meinem Bett verbracht und von dort gearbeitet, manchmal bis in den Nachmittag hinein«, gesteht Mongeau. »Die größte Herausforderung bestand darin, in den Festivalmodus zu kommen.« Umso wichtiger seien für ihn die realen Shows gewesen: »Es hat so gut getan, wieder ein paar Shows im echten Leben zu sehen, den Sound rund um mich herum zu spüren — und dabei den anderen aus dem Team zu begegnen.«
Auch Enric Palau betont die besondere Bedeutung der »physischen Venues«, wie er es nennt, an denen das Sónar pro Abend drei Live-Shows aufzeichnete. »Wir wollten der lokalen Community in Barcelona die Möglichkeit geben, zumindest ein bisschen Livemusik und Gespräche zu erleben. Es war aber auch ein Signal an das internationale Publikum, das eine sichtbare Sónar-Experience haben sollte.« Ein Ersatz-Event mit beachtlichen 130 Programmpunkten — Talks, Konzerte, Performances, Sets — und mehr als 30 Stunden an Streamings. Trotzdem musste ein Großteil der eigentlich angedachten Bookings ausfallen, was für 2021 eine Welle an Neuansetzungen mit sich bringen wird und somit keine guten Aussichten für Newcomer*innen für die kommenden Jahre bedeutet.
Mit den Ausspiel-Ergebnissen sei er zufrieden, merkt Palau an. Man habe zudem, und das wiege noch gewichtiger, viel für die Zukunft gelernt. »Künstler, Promoter, Teams, Medien und Konsumenten, sie alle experimentieren rasend viel, mit der Folge, dass das, was in der Vergangenheit funktioniert hat, hinsichtlich digitaler Inhalte vielleicht nicht mehr das Maß der Dinge für das Heute und Morgen darstellt.« Besonders die andere Aufmerksamkeitsspanne der Menschen im digitalen Raum habe es zu berücksichtigen gegolten. »Bei einem Festival wandert man von Bühne zu Bühne, im digitalen Raum geht das noch schneller, man ist immer nur einen Click weg vom nächsten Ereignis.«
Ein Blick auf die anderen Festival unterstreicht die immensen Leistungen, die alle Teams in dieser Ausnahmesituation aktivieren konnten. So verwirklichte die c/o pop 120 Programmpunkte mit einer Gesamtlänge von über 44 Stunden, verteilt auf vier Tage und ausgespielt auf zwei parallelen Kanälen. »Viele Künstler wollten per se keine Online-Shows spielen. Wir haben uns beim Booking an unser Grundgerüst gehalten, dass siebzig bis achtzig Prozent aus Deutschland sind. Als Unterstützer der Keychange Initiative haben wir den Anteil an Männern beim Festival Line-up auf knapp die Hälfte , bei der Convention sogar auf ein Drittel reduziert.« Man habe mit dem hybriden Festival »ungefähr so viele Besucherinnen und Besucher erreicht, wie bei der Präsenzveranstaltung«, resümiert Ralph Christoph. »Man darf sich nicht davon verlocken lassen, dass das Netz solche Zahlen potenziert.«
Auch das Fazit von Alexander Schulz vom Reeperbahn Festivals fällt positiv aus. Im Bezahlbereich konnte das Reeperbahn Festival 28.000 Abrufe verzeichnen, für Schulz ein »Indiz dafür, dass es richtig war, aufwändig und weit über Zoom-Niveau für unsere internationale Zielgruppe zu produzieren, und dass wir an ausgewählten Elementen auch ›post-Covid‹ festhalten werden«.
Das Mutek konnte ebenfalls beachtliche 55 Prozent der Performances des Vorjahrs umsetzen. Was die digitalen Ausspielergebnisse betrifft, sagt Alain Mongeau offen, dass er die Zahlen nicht wirklich einschätzen kann, dazu fehlen ihm noch die Vergleichswerte und Erfahrungen. Letztlich seien diese aber bloß sekundär gewesen für die Entscheidung, das Festival hybrid durchzuziehen. »Unser Hauptmotiv war es, die die Künstler*innen und Kulturschaffen zu unterstützen, durch deren Arbeit in den vergangenen Jahren das Mutek dahin gekommen ist, wo wir heute stehen.«
Man müsse sich immer daran erinnern, dass es die Musik sei, die uns »in der Dunkelheit dieses Jahres ein Licht geschenkt« hat, findet Enric Palau mutmachende Worte für die anstehende Arbeit. Alain Mongeau vom Mutek betont, dass die Pandemie bei seinem Team und ihm das Gefühl ausgelöst habe, gebraucht zu werden: »Wenn die Pandemie vorbei ist, dann können wir Kulturschaffende an vorderster Einsatzlinie mithelfen, wieder eine Normalität und Wohlbefinden in das Leben der Menschen zu bringen. Dies induziert unserer Szene eine neue Bestimmung und Verantwortung, lokal gesehen und auch international.«
2021 wird sicherlich nicht das Jahr, in dem Festivals komplett zur Normalität zurückkehren werden, hybride Strukturen und besondere Sicherheitsmaßnahmen werden uns trotz Impfungen und Schnelltests begleiten. Aber der positive Grundgeist, den alle Festivalmacher*innen verbreiten, schenkt Zuversicht, dass wir im kommenden Jahr wieder mehr gemeinsame Festivalerlebnisse werden teilen können.