Aznavour by Charles
Als der französische Liederkomponist, Chansonnier und Filmschauspieler Charles Aznavour im Herbst 2018 mit 94 Jahren starb, hinterließ er außer seinem weltberühmten musikalischen Erbe auch ein bislang unbekanntes Archiv: Hunderte Filmrollen, aufgenommen zwischen 1948 bis 1982. Edith Piaf, so sagte er einmal, habe ihm eine Schmalfilmkamera geschenkt, und die nahm er überall hin mit: auf Tourneen und zu Dreharbeiten, zu Feiern und zum Flanieren in ferne Städte, auf Bootsausflüge und in Wüstendörfer.
Das Berührende und Ungewöhnliche an »Aznavour by Charles« ist der offene, neugierige Blick des Amateurfilmers sowohl auf das Fremde als auch auf sich selbst. Dazu drückte er seine Paillard-Bolex gerne auch Begleiterinnen und Begleitern in die Hand, zur Selbstvergewisserung: »Ich filme mich selbst, also bin ich«. Angesehen, sagt er, habe er sich seine Aufnahmen später nie. Stattdessen vertraute er sie noch zu Lebzeiten dem befreundeten Regisseur Marc di Domenico an. Der sichtete 40 Stunden Rohmaterial und montierte die Bilder nun zu Gedanken aus Aznavours autobiografischen Schriften (vorgelesen von Romain Duris) mit so viel kompositorischem Gespür zu einem erzählerischen Ganzen, dass sich in diesem postumen Beinahe-Selbstporträt trotz seiner Fülle nie der Eindruck einer Überfrachtung einstellt.
Es ist ein visuelles Tagebuch, aufgeladen mit poetisch verdichtenden Sätzen, denen manchmal nicht viel fehlt, um ein Chanson zu sein. Mit auch mal gewagteren Bildausschnitten erprobt Aznavour immer wieder eine Filmsprache, die über das Notizhafte hinausgeht. Manchmal wird ihm die Kamera sogar zum Vehikel, um psychologische Vorgänge zu reflektieren: Die Trennung von einer Frau kündigt sich darin an, dass das Objektiv scheinbar einen eigenen Willen entwickelt und statt ins Gesicht der Geliebten »lieber in die Ferne, zum Horizont« blickt. Als sein Sohn viel zu früh stirbt, notiert er: »In mir ist es Nacht am helllichten Tag«. Dazu filmt er Venedig tagsüber mit fast geschlossener Blende, eine »Amerikanische Nacht«.
Wie jede anspruchsvollere Filmbiografie wirft »Aznavour by Charles« indirekt auch ein Schlaglicht auf die Gegenwart, insbesondere auf den touristischen Blick und wie er sich verändert hat. Fast unschuldig und tastend befragt Aznavour jeden neuen Ort nach der Möglichkeit, dort zu leben. Oder von dort zu kommen. Aneignungsversuche, die noch nichts Gleichmacherisches haben und den Unterschied feiern. Seine Identität als Einwandererkind wird somit Teil einer ständigen Suchbewegung, als könne er sein Glück nicht fassen, angekommen zu sein.
(dto) R: Marc di Domenico; 83 Min., Start: 18.2.