Gerd
O, wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte!
Georg Büchner, Leonce und Lena
Es gibt in Krisen das Phänomen überreizter Analyse. Das Offensichtliche scheint — nachdem es uns zunächst die Sprache verschlagen hat — allzu augenfällig, um bei naheliegenden Gedanken zu verweilen. Dann beginnt die Zeit der originellen Betrachtungen, der gewollten Bezüge, der ungewöhnlichen Perspektiven, auch der Drang, Überraschendes feststellen zu wollen, um es dann kundzutun: Ein riesiger Meteorit rast auf die Erde zu — warum die Fußball-WM noch ausgespielt werden muss!
Wie das Virus in Wellen wütet, so auch die Launen der Betrachtung, etwas schaukelt sich hoch, es tost, reißt alles mit, ebbt wieder ab, nur um in Varianten erneut aufzubrausen. Es gibt Inzidenzwerte der neuesten Ansichten, Meinungs-Mutationen. Redeweisen und Denkweisen breiten sich aus, gehen viral, wie man so sagt.
Eine Seuche ist ein Affront gegen die Gerechtigkeit. Sie trifft viele, aber nicht jeden und auch nicht jeden gleichermaßen. Und irgendwann redet man auch nicht mehr weiter über die Todgeweihten und die, die sie pflegen, sondern auch über Eltern und Kinder, über Sportler und Künstler, über Internetkonzerne und Imbissbuden und über das, was noch möglich ist und was nicht.
Wir sehen jetzt zunehmend anders aus. Man kann sich nicht selbst die Haare schneiden, man kann sich nicht auf den Kopf gucken, und die Frisörsalons haben geschlossen. Mein Frisör heißt Gerd. Wir kennen uns noch nicht lange. Ich wechselte die Frisörläden häufig, ganz unbekümmert und bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Angesichts der nicht zu leugnenden Intimität — wer nestelt einem sonst schon in den Haaren herum? — empfand ich das als promiskuitiv. Ich war ein Hallodri der Haarpflege, ein Flaneur im Friseurhandwerk. Dann kam Gerd.
Gerd ist Friseur, nicht Hair-Stylist. Sein Geschäft trägt keinen Namen, der uns mit schiefem Mund schmunzeln ließe. Es heißt nicht »Haarschule«, nicht »klipp & haar«. Es ist der Friseursalon Josef Schelten, ein Traditionsbetrieb, dessen einziger Bückling vor dem Zeitgeist die Dekoration des Schaufensters zu Halloween ist. Das Kreative ist Gerd sonst verdächtig, er steht für Handwerk. Dennoch erinnert sein Auftreten an den Typus des Playboys, wie er in den 70er Jahren etabliert wurde. Doch ist Gerds Eleganz frei von Moden und Exaltiertheiten. Damals wäre Gerd jemand gewesen, dessen Ruhm auf der Fähigkeit gründet, eine Herztransplantation vorzunehmen oder in einem bloß hölzernen Nachen einen Ozean überquert.
Gerd ist ein Causeur alter Schule. Weltgewandt in den Gesten, im Denken und Empfinden aber nah bei seiner Kundschaft. Gegenüber deren Schwächen zeigt sich Gerd nachsichtig. »Bitte den Kopf geneigt halten, ja, so machen Sie es ganz hervorragend«, sagt er dann, auch zu mir.
Jetzt hat Gerds Friseursalon geschlossen. Ein Schild sagt, für immer. Es steht dort nichts von Corona, nichts von fehlender Unterstützung, und es gibt auch keinen kalkulierten Dank an die Stammkundschaft, der mehr dazu diente, den anderen ein schlechtes Gewissen zu machen. Nur eine knappe Information mit einer Grußformel, in einer altmodischen, schönen Handschrift.
Es stimmt, was die Leute sagen, nämlich dass man in der Pandemie auch wirtschaftliche Folgen bedenken solle, weil dadurch Menschen betroffen seien. Der Inzidenzwert für diese Meinung steigt an. Man denkt nun auch zurecht an all die Musiker, Dichter, Bühnenbildner. Von Friseuren ist nie die Rede. Gerd war kein Künstler, kein Kreativer. Dass man sich nicht selbst die Haare schneiden kann, das mag Menschen wie Gerd in schwachen Momenten ein Gefühl der Genugtuung geben.