Neue Chancen
»Eine weltoffene und tolerante Stadt wie Köln sollte seinem Stadttheater eine multiperspektivische Findungskommission mit Diversitätskompetenz bieten«, steht in dem offenen Brief, den Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) kurz vor Weihnachten 2020 erhielt, unterschrieben von 350 Kulturschaffenden sowie einer Reihe von Professor*innen. Initiiert wurde der Brief von Bassam Ghazi, Leiter des »Import-Export-Kollektivs« am Schauspiel Köln. Er wurde letzten Sommer für die Findungskommission für das Berliner Theater an der Parkaue berufen und war erschrocken, dass bei der Besetzung so wichtiger Positionen die Perspektive der gesamten Gesellschaft nicht mitbedacht wurde. Kurze Zeit zuvor hat es dort einen Rassismus-Vorfall gegeben, und auch Ghazi, der libanesische Wurzeln hat, war vom Berliner Kultursekretariat erst in letzter Minute als »diverser Experte« angefragt worden.
Die Reaktionen auf den offenen Brief sind teils begeistert, teils erbost. Auf dem Theaterportal Nachtkritik füllen sie mehrere Seiten, in der Neuen Zürcher Zeitung performte der Kritiker Bernd Noack »white fragility« wie aus dem Lehrbuch: Er kommentierte, das in Köln gesuchte Intendantenwesen müsse eine »eierlegende Wollmilchsau« sein und nennt die Forderungen »bedenklich«. Dabei behauptet der offene Brief noch nicht einmal, dass der Posten selbst »divers« besetzt werden müsse. Sondern nur, dass die Auswahl gesellschaftlich repräsentativ und transparent erfolgen sollte. Ähnlich hatte es bereits im Frühjahr 2019 ein offener Brief gefordert, nachdem ein erster Versuch der Stadt, die Intendanz neu zu besetzen, krachend gescheitert war.
Zur Erinnerung: Damals hatte die Kulturdezernentin Susanne Laugwitz-Aulbach (parteilos), die mittlerweile durch die Überstunden-Affäre in Misskredit geraten ist, ihren Stuttgarter Bekannten Carl Philipp Maldeghem bestellt, der das Salzburger Landestheater leitete — und in der deutschsprachigen Theaterlandschaft bis dahin keine Rolle gespielt hatte. Dabei hatten sich weit spannendere Kandidat*innen beworben, etwa der bundesweit für seine Experimente mit Digitalität gefeierte, damalige Dortmunder Intendant Kay Voges. Den zweifellos sympathischen Maldeghem umwehte dagegen eine Aura von Provinzialität. Die Empörung brandete, Prominente wie Navid Kermani schalteten sich ein, der Kölner Stadtanzeiger startete eine Gegenkampagne. Und ein offener Brief, den 100 Künstler*innen und Kulturschaffende unterschrieben, darunter immerhin Elfriede Jelinek, wurde veröffentlicht — bis der designierte Intendant kurze Zeit später zurücktrat und der von der Stadtspitze mit der intransparenten Ernennung heftig brüskierte Stefan Bachmann wieder verlängert wurde. Die kulturpolitische Blamage Kölns war perfekt. Henriette Reker zog das Verfahren an sich, auf der Webseite der Stadt kann man den Stand lesen, seit einem Jahr unverändert: »Ich werde eine Findungskommission mit Fachleuten unter meiner Leitung einsetzen, die mich kompetent beraten.« »Meines Wissens gibt es noch keinen Sachstand«, antwortet Pressesprecher Alexander Vogel auf Anfrage.
Doch langsam wäre es an der Zeit, die Stelle auszuschreiben. Dass im Jahr 2021 gleich zwei kulturelle Schlüsselpositionen besetzt werden müssen, ist immerhin eine riesige Chance für neue Impulse. Warum nicht aus Köln endlich jene europäische Theater- und Performancestadt der Zukunft machen, die sich international öffnet, aber doch breit abstützt im Lokalen?
Das Potential wäre da — allein schon durch die perfekte europäische Mittellage. Das sieht auch Brigitta von Bülow so, kulturpolitische Sprecherin der Grünen. »Ich gehe davon aus, dass die Findung einer Kommission auf dem Weg ist«, sagt sie. Wer von den Ratsparteien das Kulturdezernat besetzen wird, sei Teil der Sondierungsgespräche zwischen Grünen, CDU und Volt. Dann folge eine Ausschreibung und Vorauswahl mit Hilfe einer Personalberatungsagentur.
Der Berater, den Henriette Reker nach dem Maldeghem-Fiasko berief, ist übrigens Ulrich Khuon, damaliger Leiter des Deutschen Bühnenvereins und heutiger Intendant des Deutschen Theaters Berlin. Auch er ist ein 69-jähriger, weißer Mann — der allerdings mit seiner großen Erfahrung viel von aktuell tobenden Diskursen weiß. Er riet Reker damals zur Verlängerung von Stefan Bachmann, um die aufgeheizte Situation zu beruhigen. Eine gute Entscheidung.
Im Gespräch mit der Stadtrevue räumt er das kursierende Gerücht aus, er würde gern selbst die Kölner Intendanz übernehmen. Auch möchte er nicht der einzige Reker-Ratgeber sein — und auch nicht alleine aus der Ferne eine Findungskommission zusammenstellen. »Ich denke, in dieser wichtigen Rolle ist die Kulturpolitik selber.« Worin er Henriette Reker aber sehr wohl bestärkt hat: In ihrer Entscheidung für die Kölner Kulturpolitik das »Ohr an den Puls der Stadtgesellschaft« zu legen, sprich: sich mit den Verfassern der offenen Briefe zu treffen und ins Gespräch zu gehen. Die Einladung dazu steht noch aus.