Spiel mir das Lied vom Leben
»The Secret of Life« — man kommt nicht umhin, in dieser Jahreszeit und nach Monaten des kulturellen Winterschlafs den Werktitel als Verheißung von Aufbruch und aufsteigender Lebensenergie zu interpretieren. Tatsächlich scheint gerade in der eindrucksvollen, Skulptur und Sound symbiotisch miteinander verschmelzenden Kooperation von Simon Rummel (*1978) und Vera Lossau (*1976) ein (ur)gewaltiges, die Sinne umfänglich stimulierendes Frühlingserwachen in Bild und Ton erlebbar zu werden. Zugleich Installation und Instrument, Ausstellung und interaktive Anordnung, behauptet sich die vielschichtige Präsentation der beiden Künstler vor allem als sensibles Zusammenspiel akustischer und plastischer Elemente. Dabei fällt der musikalische Anteil Simon Rummel zu, während Vera Lossau bildhauerisch mitwirkt.
Zehn Eisenrahmen verschiedener Größenordnung bilden das Grundgerüst einer raumgreifenden Klangapparatur. Wie ein Saiteninstrument mit jeweils vier Bahnen Klavierdraht bespannt hängen sie in variabler Höhe an Seilzügen von der Decke der Artothek. Sie funktionieren als Träger von bunt schillernden plastischen Objekten, festgezurrt durch die Drähte »als säßen sie in einem Spinnennetz fest«, wie die Künstlerin kommentiert. Zugleich sind sie Teil einer höchst anspruchsvollen Kurbelmechanik, die Simon Rummel in minutiöser Handarbeit gebaut hat und die den Ausstellungsbesucher nun zur aktiven Beteiligung einlädt. Die Umsetzung der manuellen Drehung setzt die kleinteilige Holzkonstruktion in Bewegung, bis am Ende dieser Übertragungskette der Kiel die Saite zupft. Werden die Eisenhalterungen darüber hinaus gekippt, ergibt sich eine zusätzliche Klangfärbung des Tons durch die Verlagerung des Gewichts der eingelassenen Skulpturen und die damit einhergehende Veränderung der Spannkraft der Saiten. Eine perlende, komplexe Klangvielfalt ergießt sich bei der Betätigung der zehn Rahmen »wie bunter Regen, wo jeder Tropfen eine andere Farbe hat«, so Rummel.
Im spannungsvollen Gegensatz zur minimalistischen Reduktion der instrumentalen Vorrichtung zeichnen sich die im Atelier spielerisch gewachsenen Skulpturen von Lossau durch ihre eher spontane Formgebung aus. Wulstig und wabernd, mitunter geradezu unförmig, lagern sie auf den stark gespannten filigranen Metalldrähten. Trotz ihrer klar definierten Funktion wohnt diesen undefinierbaren Gebilden immer eine Absurdität inne, da sie sich den hehren bildhauerischen Idealen und der Unterscheidung zwischen High und Low widersetzen. Sie strahlen selbstbewusst eine Art physische Unbeholfenheit aus und ähneln damit den berühmten »Passstücken« von Franz West, jenen plumpen Hilfsmitteln, die humorvoll als Ausdruck von »Prothesen und Neurosen« ihre bildhauerische Rechtfertigung beanspruchten.
Über ein Drahtgerüst spannt Lossau eine Haut aus verschiedenfarbigem Gießharz, wobei krude Schüttungen die Farbschichten ungleichmäßig über die Oberfläche verteilen, deren Beschaffenheit, irgendwo zwischen glänzendem Zuckerguss und glibberigem Gedärm, sich zugleich als anziehend und abstoßend erweist. Die klebrige, bonbonartige Farbigkeit und der ihnen anhaftende Perlmuttschimmer grenzen an Kitsch oder gar Trash. Mit der Stellung der Saiten verändern sich auch die Ansichten der Objekte, die sich von vielerlei Seiten zeigen –und so dem Betrachter ihr formales Potenzial zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit irritierend vor Augen führen. Die Bewegung bedingt das Bild: anatomische Ausstülpung, vielarmige Krake, geblähter Blasebalg oder fleischige Blume?
Neben den faszinierenden Einblicken in die mechanische Funktionsweise, deren aktiver Teil man als Besucher*in selbst ist, ist es vor allem das unmittelbare, immersive Erlebnis im Inneren dieses technischen Wunderwerks, aus dem sich die Magie poetischer Erfahrung enthüllt. Im langsamen Rhythmus der Kurbeldrehung und dem steten Wandel tonaler Modulation erwachsen vor unseren Augen merkwürdige Blüten multipler Metamorphosen und Mutationen. Auditive und ästhetische Impressionen überlagern sich beim Lauschen der zarten, metallisch zirpenden Geräusche und der Betrachtung des wechselvollen Bildes einer, so Simon Rummel, »fantastischen Blumenwiese«.
6.–24.4. »The Secret of Life«
in Zusammenarbeit mit AchtBrücken-Festival
Artothek – Raum für Junge Kunst
Besuch nach telefonischer Anmeldung (max. 2 Personen) unter 221 22332
Simon Rummel studierte Jazzpiano, Improvisation und Komposition an der Kölner Musikhochschule sowie freie Kunst an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Georg Herold. Der Improvisationsmusiker, Komponist und Klangkünstler ist Träger des Bernd Alois Zimmermann Stipendiums (2013), des Deutschen Filmmusikpreises (Kategorie Nachwuchs, 2017) und bekannt durch regelmäßige Konzertauftritte mit dem von ihm gegründeten Simon Rummel Ensemble.
Vera Lossau studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Magdalena Jetelová und Rita McBride sowie am Chelsea College of Art & Design, London. Für ihr künstlerisches Werk, das Bildhauerei, Zeichnung, Malerei, Video und Performance umfasst, erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise. Viel Beachtung fand 2016 ihre Ausstellung »Eine kurze Geschichte der Löcher« (Museum für Angewandte Kunst Köln/ LVR Industriemuseum Oberhausen). Sie lebt und arbeitet in Düsseldorf und Neuss.