Wendezeit
Ich lebe quasi in selbst gewählter Quarantäne. Ich habe aus dem verordneten Shutdown aus Versehen einen freiwilligen Lockdown gemacht. Mir macht das nichts aus. Ich bin ein Krisengewinnler, so wie Streaming-Plattformen und CDU-Hinterbänkler mit FFP-2-Masken in der Doppelgarage. »Quarantäne« bedeutet eigentlich »vierzig«, die Zahl steht in alten Texten für eine besondere Zeit. Jesus ging vierzig Tage in die Wüste und kam nach einigen Prüfungen mental gestärkt zurück. Ich sitze seit weit mehr als vierzig Tagen in meiner Bude, die jetzt auch wüst aussieht — aber ob mich das mental stärkt, vermag ich nicht zu sagen. Was ich sagen kann, ist, dass ich offenbar eine recht robuste Spezies bin, die lange Zeit ohne Sozialkontakte und Frischluft auskommt. Es könnte sich um eine Sonderform der Kryptobiose handeln.
Gesine Stabroth fragte, ob ich nicht wenigstens mal »an die frische Luft« wolle. Ich glaube, ihr Internet war kaputt. Ich möge das als eine »Öffnungsperspektive« auffassen, meinte Gesine Stabroth. Da hätte ich dank ihr immerhin etwas, das weiten Teilen der Wirtschaft derzeit fehle. Also gingen wir spazieren. Ich war überrascht, wie leicht es noch ging: einfach einen Fuß vor den anderen setzen und sich ein bisschen langweilen. Manche Dinge verlernt man nicht.
Natürlich muss man ab und an etwas sagen: »Oh, jetzt wird es aber frisch, wo die Sonne weg ist« oder »Schlimm, wo die Hunde überall hinkacken«. Gesine Stabroth machte nur »Mhm...« und das lag nicht an der FFP-2-Maske. Denn dann blieb Gesine Stabroth stehen und meinte, dass man über Corona nicht die Klimawende vergessen dürfe.
Jetzt machte ich »Mhm...« und dann fragte ich, ob Gesine Stabroth auffalle, dass jetzt immer alle von »Wende« reden? Energiewende, Verkehrswende, Landwende, Wirtschaftswende und auch Ernährungswende: Quinoa-Gericht statt Wurst mit Gesicht. Wobei »Ernährungswende« ein wenig so klingt, als nehme das Essen den umgekehrten Weg — als drehte sich der Magen um. Und ums Umdrehen geht’s ja bei jeder Wende. »Ernährungswende«, nun ja. Aber die Menschen nehmen ja auch keinen Anstoß an dem Wort »Recyclingklopapier«.
Jedenfalls ist die Beliebtheit der »Wende« erstaunlich. Dabei galt die »Wende« lange Zeit als etwas Ungehöriges, jedenfalls in Kreisen, die sich progressiv wähnten. Helmut Kohl sprach von der »geistig-moralischen Wende«. Das war damals für einen konservativen Politiker ein Top-Slogan. Weniger, weil damals Moral als Spießerhobby galt, sondern weil im Begriff der Wende schon die Abkehr, die Umkehr, der Rückschritt anklangen. Kohls Gegner riefen nach Revolution, während er und seine good ol’ boys eine Wende vollzogen — mit der brutal-behäbigen Geschmeidigkeit eines benzinsatten Mercedes SEL 500. Die Wende war die Umkehr, zurück zu einem alten Status quo.
Jede Wende ist ja eine beherzte Fahrt gegen eine Einbahnstraße, ob nun mit Staatskarossen oder dem Lastenfahrrad: Es geht raus aus einer vermuteten Sackgasse, an deren Ende man das Verderben wähnt. Wer eine Wende vollzieht, bekennt sich zu einem Geisterfahrertum mit guten Absichten. Ob die Umkehr dann ein Fortschritt ist, kann jeder entscheiden, wie’s ihm passt.
Jetzt war Gesine Stabroth schon wieder genervt. Man merkt das trotz FFP-2-Maske und Abstand. »Eigentlich wollte ich spazieren gehen und nicht vollgequatscht werden.« Brauchen wir eine Gesprächswende? Warum gibt es immer Streit? Ich wäre besser zu Hause geblieben. Wandel durch Annäherung, das hat mal ein anderer Politiker gesagt. Bei Gesine Stabroth und mir klappt es nicht. Es wandelt sich nichts bei der Annäherung. Ich sitze daheim, denke über Wandel und Wenden nach und starre sie an, die Wände.