Neuer Sinn im Leben unspektakulärer Typen

»Der Rausch« von Thomas Vinterbergs

Thomas Vinterbergs Hommage an die Vorzüge des Kontrollverlusts

Der wichtigste Satz dieses Films fällt zum Glück schon recht früh. Da ist man noch nüchtern genug, um ihn zu behalten: »Schade, dass du so vernünftig bist«, sagt bei einer Geburtstagsfeier unter befreundeten Lehrerkollegen einer zum anderen. Martin (Mads Mikkelsen), ausgebrannt und in einer Lebenskrise, nippt nämlich nur am Wasserglas. Die anderen lassen sich tiefroten Burgunder schmecken. Es ist ihre Zugewandtheit, die bei Martin etwas aufbricht. Alle fragen sich: Was heißt das eigentlich, »vernünftig« sein?

Die klischeefrei grundsympathischen Freunde (neben Mikkelsen: Thomas Bo Larsen, Magnus Millang und Lars Ranthe) starten also ein Experiment: Einer populärwissenschaftlichen These zufolge komme der Mensch mit 0,5 Promille Blutalkohol zu wenig auf die Welt. Deshalb sei es vernünftig, sich diesen Pegel anzutrinken und ihn zu halten. Man sei dann freier, froher, kreativer, empathischer. Die Vier testen das nicht nur am Abend sondern auch im Unterricht. »Der Rausch« nimmt seinen Lauf. Und damit einer der berührendsten und zugleich differenzierendsten Filme, die wohl je über Hochprozentiges gedreht worden sind.

Er wolle die befreiende Wirkung untersuchen, »die Alkohol auf Menschen haben kann«, und sich davor »verneigen«, sagt der dänische Regisseur Thomas Vinterberg. Die Betonung liegt auf »kann«, weshalb es zum einen oder anderen Kippmoment kommt. Fast ein bisschen zu auffällig baut Vinterberg einen Alibi-Katastrophenfall ein, als Warnhinweis, wohin Maß- und Kontrollverlust führen.

Aber die Freude am Rausch als etwas, das Begrabenes in einem Menschen wieder zum Leben erwecken kann, die desavouiert er nicht. Die Kamera (Sturla Brandth Grøvlen, »Victoria«) bewegt sich beobachtend, nicht wertend, eher so, als wolle auch sie, die Nüchterne, erfahren, was Alkohol so begehrenswert macht. Stets ist dieses Begehrte mehr als »nur« das Getränk, und nie ist es die bloße Betäubung: Wärme durchströmt die Bilder, die Grenzen zwischen Innen und Außen lösen sich auf eine Weise auf, die nichts Bedrohliches hat. Bis zur wahrhaft ekstatischen Schlussszene.

»Der Rausch«, 2020 der große Abräumer beim Europäischen Filmpreis, erinnert daran, dass Wein beinah so alt wie die Menschheit ist. Und dass, bevor es zum Schreckensbild des einsam durch die Filmgeschichte wankenden Trinkers kam, der Rausch eine soziale Funktion hatte, in der sich das erschöpfte Ich auch mal von sich selbst erholen konnte. Vielleicht haben wir bis heute Krisen nicht trotz Alkohols überlebt, sondern mit ihm und miteinander.

(Druk)DK/SWE/NL 2020, R: Thomas Vinterberg, D: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Maria Bonnevie, 116 Min.