Der andere Blick auf das Eigene

Kuratorin Ela Kaçel über ihre Ausstellung »Vor Ort: Fotogeschichten zur Migration«

Den Anstoß zur Ausstellung »Vor Ort: Fotogeschichten zur Migration« im Museum Ludwig gab die Architekturhistorikerin Ela Kaçel. Während ihrer Forschung erhielt sie Zugang zu privaten Fotografien ehemaliger Bewohner*innen der um 1960 in Köln für die damals so genannten Gastarbeiter errichteten Wohnheime der GAG Immobilien AG. Von diesen ausgehend hat sie als Gastkuratorin gemeinsam mit Museumskuratorin Barbara Engelbach eine Ausstellung entwickelt, die diese persönlichen Aufnahmen ins Zentrum stellt. Sie vermitteln ganz unterschiedliche Erzählungen über das Ankommen in der neuen Heimat und veranschaulichen Stadtgeschichte als Migrations­geschichte.


Sie sind Architekturhistorikerin und hatten die Idee für diese Ausstellung. Wie kann man sich Ihr Forschungsgebiet vorstellen? Wo lassen sich Schnittstellen zwischen Architekturgeschichte und Migrationsgeschichte finden?

In Forschung und Lehre befasse ich mich mit der Nachkriegszeitmoderne in der Architektur, das heißt ich betrachte Bauten und Repräsentationsformen aus einer theoretischen, sozial- und kulturpolitischen Perspektive. Das Visuelle und das Erlebte sind entscheidende Elemente, um Raumgestaltungen kritisch zu untersuchen. Ausschließlich architektonisch betrachtet, sind z. B. die für Arbeitsmigranten geplanten Häuser und Wohnheime als gelungene Projekte in der Stadt- und Architekturgeschichte verstanden worden. Wenn man aber diverse Fotografien, Fotogeschichten und gelebte Erfahrungen einzelner Bewohnerinnen und Bewohner in den Blick nimmt, lässt sich eine andere, vielfältigere Geschichte daraus erkennen.

Die Ausstellung zeigt neben Interviews und Texten ein breites Spek­trum an privaten Fotografien und damit subjektive Blicke auf die Stadt Köln. Welche Rolle spielt das Fotografieren für die Verortung in der neuen Umgebung?

Sich in den urbanen Settings darzustellen und fotografieren zu lassen war ein Mittel zur Selbstverortung in der neuen Stadt, aber auch für die Kommunikation mit der zurückgebliebenen Familie, sei es in Italien, Griechenland oder der Türkei. Die damals oft besuchten Stadträume und Plätze in Köln — etwa der Aachener Weiher, Rheinpark, Neumarkt und Ebertplatz — ermöglichten Arbeitsmigranten visuell gelungene Selbstinszenierungen. Gleichzeitig zeigen solche privaten Fotografien, die zu einem dokumentarischen Zweck entstanden sind, die Veränderungen im Stadtbild, im Alltag und im öffentlichen Leben. Fotografien und deren Settings sind in diesem Sinne nicht nur Träger der persönlichen, sondern auch der  öffentlichen Erinnerungen.

Warum eignet sich denn ein Museum für moderne und zeitgenössische Kunst als Kontext für diese Ausstellung? Welche Möglichkeiten bieten sich dadurch, welche Perspektiven könnten sich für die Zukunft eröffnen?

Private Fotografien und die damit verbundenen Geschichten von Protagonisten sind zentral für die Ausstellung. Gleichwohl werden daneben öffentliche Fotografien der 70er und 80er Jahre präsentiert, die entweder aus der Sammlung des Museum Ludwig stammen oder durch weitere Arbeiten der Fotografen erweitert worden sind. Damit zielen wir darauf, den dominanten medialen und auch künst­lerischen Blick auf die Thematik Mi­gration, also den Blick »von Außen«, und private Fotografien und Erinnerungsbilder der Arbeitsmigranten nebeneinander zu stellen und auch zu konfrontieren. Mit »Vor Ort« ermöglicht das Ludwig am Material entlang eine profunde Auseinandersetzung mit bildlichen Formen der Dokumentation und Selbstdarstellung in einer postmigrantischen Gesellschaft, wo Einwanderung und ihre visuell-räumliche Geschichte grundsätzlich zum kollektiven Gedächtnis gehören. Dadurch eröffnen sich auch neue Möglichkeiten für eine interdisziplinäre Wissensproduktion und dadurch andere Herangehensweisen für kritische Migrationsforschung: Sie sollte, von Sozial- bis Kunstwissenschaften, fachübergreifend und unbedingt partizi­patorisch agieren.

Was nehmen Sie von Ihrer Arbeit als Kuratorin dieser Ausstellung an Erfahrung für die Zukunft mit?

Es war eine bereichernde Erfahrung. Soziale und gesellschaftliche Themen tragen immer einen Bezug zur Kunst- und Ausstellungspraxis. Durch das Argumentieren auf verschiedenen Ebenen, verändert sich nicht zuletzt der eigene Blick auf die Dinge. Auch die Zusammenarbeit zwischen zwei sehr unterschiedlichen Institutionen, dem Museum Ludwig und dem »Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland« (DOMID) als Kooperationspartner, gestaltete sich als ein spannender und sehr produktiver Austausch. Die umfangreiche und sehr einzigartige Sammlung des DOMID, entstanden aus der Initiative von Migrantinnen und Migranten, wird so auch hoffentlich einem ganz anderen Publikum zugänglich.

Museum Ludwig, 19.6.–3.10.2021
(es gelten die jeweils aktuellen Besuchsregelungen)
museum-ludwig.de
domid.org