Barfuß-Saison
Langsam geht es also wieder los. Die Corona-Verordnung von NRW gilt zwar — Mitte Juni — noch weiter, aber auch die sieht schrittweise eine Öffnung unserer liebsten Freizeitorte vor, sobald die Inzidenz stabil unter 35 bleibt. Bei Redaktionsschluss lag dieser Wert bereits landesweit bei entspannten 16,9. Der dreistufige Plan für die Rückkehr zur Normalität wird allerdings ein paar Monate in Anspruch nehmen. Erst für September erwartet das Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales das Erreichen von Stufe 1 und damit die Öffnung von Clubs und Diskotheken. Voraussetzungen sind weiterhin negative Tests sowie ein genehmigtes Hygiene-Konzept seitens der Veranstalter*innen. Von einer Situation wie vor Corona ist in NRW diesem Sommer noch nicht zu rechnen.
In Berlin dagegen gibt es schon seit Juni-Beginn wieder Events im Freien und mit bis zu 1000 Teilnehmern. Soll getanzt werden, sind es immerhin noch 250 Personen — negativer Test, Vollimpfung oder Immunität vorausgesetzt. Diese Änderung kommt nach Wochen des Biergartenbetriebs vieler Clubs, in denen zwar DJs auflegten, aber nicht getanzt werden durfte. Ein Regelung, die bereits Protestierer auf den Plan rief, jetzt aber doch noch vom Senat aufgehoben wurde.
Auch drinnen dürfen es jetzt 250 Gäste sein, doch viele Clubs öffnen bei dieser Restriktion noch gar nicht. Das Berghain etwa bringt stattdessen seine Ausstellung »Studio Berlin« aus dem letzten Jahr für ein paar zusätzliche Wochen zurück. Mit Voranmeldung kann man ganz ohne Türsteher-Stress den mythisch gewordenen Club besuchen. Dort finden sich statt Rave und Exzess momentan Werke von zeitgenössischen Künstler*innen, die ihre Studios in Berlin haben. Zu sehen sind internationale und nationale Beiträge aus Fotografie, Skulptur, Malerei, Video, Sound, Performance und Installation.
Die Ungeduld scheint allerorten groß, die Polizei hat in den letzten Wochen viel zu tun gehabt, die zahlreichen illegalen Partys in Waldstücken und an Flussufern zu unterbinden. Münster, Nürnberg, Würzburg und auch Köln waren dabei, die Polizei attestierte den Freiluft-Partys »Festival-Charakter« und machte neben den Lockerungen und dem Sommerwetter auch die derzeit stattfindende Fußball-EM für das aufgeheizte Freizeitverhalten der Menschen verantwortlich.
Offiziell tanzen durften in Deutschland bislang nur die 300 Ticket-Gewinner eines sogenannten Pilot-Raves. Das Testevent vom Institut für angewandte Forschung e. V. Berlin testete alle Gäste vor und nach der Party, während der sie einen Tracker tragen mussten, der eventuelle Abstandsunterschreitungen (!) aufzeichnet. Die so erstellte Studie will damit beweisen, dass mit entsprechenden Hygienekonzepten auch Veranstaltungen mit voller Kapazität wirklich risikofrei durchzuführen sind.
Für das Fusion-Festival kommen diese Ergebnisse jedoch zu spät. Das Großereignis, das üblicherweise am letzten Juniwochenende in Mecklenburg-Vorpommern stattfindet, musste nach langem Bangen und aufwändigen Planungen schließlich doch abgesagt werden. Stattdessen plant man nun, das Gelände auf dem alten Militärflughafen bei Lärz an drei Wochenenden mit jeweils 10.000 Besuchern bespielen zu lassen. Kostenpunkt 100 Euro, inklusive PCR-Test. Die Nation of Gondwana im Berliner Umland, die Schwester der Fusion im Geiste: ähnlich bunt-verbimmeltes Publikum und ebenfalls lange Tradition, hat bereits alle nötigen Genehmigungen vorgelegt bekommen. Damit wäre die Nation das erste große Techno-Festival, dass diesen Sommer in Deutschland stattfinden kann. Auch hier sollen wieder anonym Daten gesammelt werden, um wissenschaftliche Erkenntnisse für ähnliche Veranstaltungen zu gewinnen.
Nicht weniger wichtigere Erkenntnisse für die Zukunft werden gleichzeitig bei einem großen Branchen-Treffen an der Ostsee gesucht. Der Festival Playground will neue Konzepte rund um die Themen Nachhaltigkeit, Eventisierung, Mobilität, Inklusion, Ernährung, Gleichberechtigung und Technologie verhandeln. Die Veranstalter von über 80 verschiedenen Festivals treffen sich auf dem Gelände des About You Pangea Festivals mit Expert*innen, Musiker*innen und Fans. Gemeinsam wollen sie sich auf den gesellschaftlichen Wandel, kommende Generationen von Festivalgänger*innen oder neue Hygiene- und Sicherheitsaspekte vorzubereiten.
Hierzulande überlegt und plant man also noch auf Hochtouren, anderswo wird schon wieder scharf geschossen. In Kiev etwa stieg bereits die achte Ausgabe des lokalen Ostrov Festivals mit Headlinern wie Sven Väth, Charlotte de Witte oder Sonja Moonear. Die Fotostrecke auf Instagram zeigt Menschenmassen, dafür keine Masken oder Sicherheits-Abstände. Alles sieht so aus wie immer, nichts erinnert mehr an die Pandemie. Ob man sich in Osteuropa einfach sicherer ist, das bereits alles vorbei ist? So wirkt auch die Performance des serbischen Großevents Exit Festival: Zusammen mit weiteren lokalen Musikfestivals haben die macher ein Protokoll vorgestellt, das »in Übereinstimmung mit den neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt, dass das Risiko einer Verbreitung des Virus bei bestimmten Einlassbeschränkungen nahezu zu vernachlässigen ist«. In der Ankündigung zur Mitte Juli geplanten Ausgabe heißt es außerdem, dass Künstler und Besucher vor Ort die Möglichkeit zur Impfung bekommen sollen, um gerade junge Menschen dazu anzuregen, sich impfen zu lassen.
Den Engländern nützt ihre erfolgreich vorangetriebene Impfkampagne allerdings gerade nichts. Die indische Virus-Variante B.1.617 sorgt für neue Infektionen und macht der Öffnung des Nachtlebens einen Strich durch die Rechnung. Euphorisch hatten sich alle auf den als Freedom Day bezeichneten 21. Juni gefreut, doch da musste Premier Johnson in letzter Minute zurückrudern, jetzt gelten die Restriktionen mindestens einen weiteren Monat. Die BBC schätzt, dass bis zu 5.000 Konzerte betroffen sind. Viele Clubs, die gerade noch so überlebt hatten, könnten jetzt endgültig gezwungen sein zu schließen.
Die New Yorker dagegen freuen sich über die Rückkehr ihrer Underground-Szene. Berichte sprechen von »einer Renaissance — einer Stimmung wie in den 20er Jahren«. Der sogenannte Excelsior-Pass, eine digitale Impfpass-App, soll Fälschungen vorbeugen, die gerade in den USA an Popularität gewinnen. Deutschland bietet zwar ebenfalls eine CovPass-App an, das bewährte gelbe Heftchen wird aber nicht zwangsweise ersetzt werden. Ein Impf-Check an der Clubtüre oder dem Festivaltor wird wohl noch eine Zeit lang dazugehören. Bis sich überhaupt die Türen öffnen, werden allerdings noch ein paar Monate vergehen.